Der Zeitdieb
waren.
»Graue Leute sind bei der Uhr!«, rief Lobsang.
»Wollen sie herausfinden, was die Uhr ticken lässt?«
»Ha! Ja!«
»Was hast du vor?«
»Ich werde die Uhr zerstören!«
»Aber damit zerstörst du auch die Geschichte!«
»Na und?«
Er griff nach Susannes Hand, und sie spürte fast so etwas wie einen
elektrischen Schlag durch ihren Arm zucken.
»Du brauchst die Tür nicht zu öffnen!«, sagte er. »Du brauchst nicht stehen zu bleiben! Lauf einfach weiter, bis zur Uhr!«
»Aber…«
»Sprich nicht mit mir! Ich muss mich erinnern!«
»Erinnern? An was?«
»An alles!«
Herr Weiß hob bereits die Axt, als er sich umdrehte. Aber einem Körper kann man nicht trauen, weil er für sich selbst denkt. Wenn man ihn
überrascht, zeigt er mehrere Reaktionen, noch bevor das Gehirn
informiert wird.
Zum Beispiel klappt der Mund auf.
»Ah, gut«, sagte Lu-Tze und hob die gewölbte Hand. »Lass es dir
schmecken!«
Die Tür war so substanzlos wie Dunst. Es hielten sich tatsächlich
Revisoren in der Werkstatt auf, aber wie ein Phantom glitt Susanne
einfach durch sie hindurch.
Die Uhr glühte. Und sie wich zurück, als Susanne versuchte, sie zu
erreichen. Vor Tods Enkelin entrollte sich der Boden und schob sie
zurück. Die Uhr wurde schneller, strebte einem fernen Ereignishorizont entgegen. Gleichzeitig wurde sie größer, verlor dabei aber an Substanz –
329
die gleiche Menge an Uhr schien mehr Platz zu beanspruchen.
Andere Dinge geschahen. Susanne blinzelte, nahm jedoch nicht das
Flackern kurzer Dunkelheit wahr.
»Ah«, sagte sie zu sich selbst, »ich sehe also nicht mit den Augen. Was sonst noch? Was passiert mit mir ? Meine Hand… sieht normal aus, aber bedeutet das auch, dass sie tatsächlich normal ist? Werde ich kleiner oder größer? Was…«
»Bist du immer so?«, erklang Lobsangs Stimme.
»Wie so ? Ich fühle deine Hand, und ich höre deine Stimme… Ich glaube zumindest, deine Stimme zu hören, aber vielleicht ertönt sie in meinem Kopf, und ich spüre nicht, dass ich laufe…«
»So… analytisch .«
»Natürlich. Was soll ich denn sonst denken? ›Potzblitz und
Donnerwetter‹? Außerdem ist alles ziemlich klar. Die Dinge haben vor allem metaphorische Bedeutung. Meine Sinne erzählen mir eine
Geschichte, weil sie von den wirklichen Ereignissen überfordert sind…«
»Lass meine Hand nicht los.«
»Keine Sorge, ich lasse dich nicht los.«
»Ich meine, du sollst die Hand nicht loslassen, weil sonst alle Teile deines Körpers so zusammengepresst werden, dass sie weniger Platz
einnehmen als ein Atom.«
»Oh.«
»Und versuch nicht dir vorzustellen, wie dies wirklich von außen
aussieht. Hier kommt die Uhhhrrrrrrrr…«
Herr Weiß schloss den Mund. Sein Gesichtsausdruck verriet erst
Verblüffung, dann Entsetzen, einen Schock… und schließlich
schrecklich wundervolle Glückseligkeit.
Er löste sich auf. Wie ein großes, komplexes Puzzle aus vielen kleinen Teilen, fiel er auseinander. Zuerst zerbröckelten die Gliedmaßen, dann auch der Rest des Körpers. Ganz zum Schluss verschwanden die Lippen.
Eine halb zerkaute, von Schokolade überzogene Kaffeebohne fiel zu
Boden. Lu-Tze bückte sich rasch, griff nach der Axt und zeigte sie den 330
Revisoren. Sie wichen zurück, wie hypnotisiert von der Autorität.
»Wem gehört diese Axt?«, fragte er. »Wer erhebt Anspruch darauf?«
»Es ist meine!«, antwortete eine graue Frau. »Ich bin Frau
Maulwurfsgrau!«
»Ich bin Herr Orange, und die Axt gehört mir!«, schrie Herr Orange.
»Es steht nicht einmal fest, ob Maulwurfsgrau eine richtige Farbe ist!«
Ein Revisor in der Menge fragte nachdenklich: »Kann es sein, dass
Hierarchie übertragbar ist?«
»Natürlich nicht!« Herr Orange sprang auf und ab.
»Ihr müsst es unter euch selbst entscheiden«, sagte Lu-Tze und warf
die Axt. Hundert Augenpaare beobachteten, wie sie fiel.
Herr Orange erreichte sie als Erster, aber Frau Maulwurfsgrau trat ihm auf die Finger. Anschließend wurde alles sehr hektisch und verwirrend und, nach den Geräuschen aus dem Kern des Durcheinanders zu
schließen, auch sehr schmerzhaft.
Lu-Tze nahm den Arm der verblüfften Unity.
»Wie schnell sie lernen«, sagte er. »Wir überlassen es besser ihnen
selbst. Niemand wird uns danken, wenn wir uns einmischen.«
Irgendwo in dem Gewühl erklang ein Schrei.
»Demokratie bei der Arbeit«, kommentierte Lu-Tze fröhlich. Er sah
auf. Die Flammen über der Welt verblassten, und er fragte sich,
Weitere Kostenlose Bücher