Der Zeitdieb
– der
Bolzen war in der leeren Luft festgenagelt.
Lobsang betrachtete ihn neugierig.
»Du möchtest ihn berühren«, erklang eine Stimme hinter ihm. »Du
möchtest ihn berühren, obwohl ich dich davor gewarnt habe. Achte auf den verdammten Himmel!«
Lu-Tze rauchte nervös. Wenn sich der Rauch etwa zwanzig Zentimeter
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weit entfernt hatte, erstarrte er plötzlich.
»Kannst du wirklich nicht fühlen, wo die Uhr ist?«, fragte er.
»Sie scheint überall um uns herum zu sein, Kehrer. Wir sind ihr so
nahe, dass… Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.«
»Nun, dies ist die Straße Schlauer Kunsthandwerker, und dort drüben
befindet sich die Gilde der Uhrmacher«, sagte Lu-Tze. »Ich wage es
nicht, das Gebäude zu betreten, wenn wir dem Ziel so nahe sind. Wir
müssen ganz sicher sein.«
»Was ist mit der Universität?«
»Zauberer sind nicht verrückt genug, um so etwas zu versuchen!«
»Willst du schneller sein als der Blitz?«
»Das ist möglich, wenn wir von diesem Tal aus starten. Blitze sind
nicht so schnell, wie die meisten Leute glauben.«
»Warten wir darauf, dass sich eine kleine Spitze aus den Wolken
schiebt?«
»Ha! Die Jugend von heute. Schläft in der Schule. Der erste Blitz geht vom Boden aus und erzeugt in der Luft ein hübsches Loch für den
Hauptblitz. Halt nach dem Glühen Ausschau. Wenn es die Wolken
erreicht, müssen unsere Sandalen ordentlich über die Straße geklatscht sein. Kommst du gut zurecht?«
»Ich könnte den ganzen Tag so weitermachen«, sagte Lobsang.
»Versuch es besser nicht.« Lu-Tzes Blick glitt erneut über den Himmel.
»Vielleicht habe ich mich geirrt. Vielleicht ist es einfach nur ein Gewitter.
Früher oder später gibt es immer eins…«
Er unterbrach sich, als er Lobsangs Gesichtsausdruck sah.
»Na schön«, sagte der Kehrer langsam. »Gib mir einen Hinweis. Deute
in die Richtung, wenn du nicht sprechen kannst.«
Lobsang sank auf die Knie und hob die Hände an den Kopf. »Ich weiß
nicht… weiß nicht…«
Einige Straßen entfernt stieg silbriges Licht auf. Lu-Tze griff nach dem Ellenbogen des Jungen.
»Komm. Auf die Beine. Schneller als der Blitz!«
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»Ja… ja, in Ordnung…«
»Du kannst es schaffen!«
Lobsang blinzelte. Er sah wieder das gläserne Schloss – die blassen
Konturen zeichneten sich über der Stadt ab.
»Uhr«, brachte er mühsam hervor.
»Lauf, Junge, lauf!«, rief Lu-Tze. »Und lass dich von nichts aufhalten.«
Lobsang lief los, und es fiel ihm schwer. Die Zeit wich für ihn beiseite, zögernd erst, als die Beine des Jungen pumpten. Aber mit jedem Schritt wurde er schneller, und die Farben veränderten sich, als die Welt noch langsamer wurde.
Der Kehrer hatte eine andere Mulde in der Zeit erwähnt, ein anderes
Tal, noch näher am Nullpunkt. Lobsang hoffte, dass er es bald erreichte
– insofern er überhaupt noch denken konnte. Sein Körper fühlte sich an, als könnte er jeden Augenblick auseinander brechen. Er hörte, wie die Knochen knackten.
Das Glühen weiter vorn hatte die Hälfte der Strecke bis zu den
dunklen Wolken zurückgelegt, als Lobsang die Kreuzung erreichte und
sah, dass es von einem einige Dutzend Meter entfernten Haus ausging.
Er drehte den Kopf und sah zum Kehrer, der sich ein ganzes Stück
hinter ihm befand: eine Statue, die nach vorn kippte.
Lobsang konzentrierte sich und ließ die Zeit etwas schneller werden.
Er erreichte Lu-Tze und hielt ihn fest, bevor er auf den Boden prallen konnte. Blut tropfte aus den Ohren des Alten.
»Ich schaffe es nicht, Junge«, murmelte der Kehrer. »Setz den Weg
allein fort!«
»Es ist ganz leicht! Als liefe man bergab!«
»Nicht für mich!«
»Ich kann dich nicht einfach so zurücklassen!«
»Bewahre uns vor Helden! Kümmer dich um die verdammte Uhr!«
Lobsang zögerte. Der Hauptblitz war bereits unterwegs: ein glühender Dorn, der aus den Wolken nach unten wuchs.
Er lief los. Der Blitz zielte auf einen nahen Laden, über dessen
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Schaufenster eine große Uhr hing.
Das Fenster war näher als die Tür – Lobsang zog den Kopf ein und
sprang. Um ihn herum zerbrach das Glas, und die Splitter verharrten
mitten in der Luft. Uhren rutschten von den Auslagen und erstarrten
dann wie in unsichtbarem Bernstein.
Der Novize sah eine zweite Tür, griff nach dem Knauf und zog, spürte dabei den schrecklichen Widerstand von Holz, das sich mit einem nicht unerheblichen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit bewegen sollte.
Sie hatte sich etwa
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