Der zeitlose Winter
beschwerlich. Doch in den Gebieten, die noch nicht von Schnee und Eis bedeckt waren, enthüllte sich ihnen eine atemberaubende Landschaft. Der Berg war ein erloschener Vulkan, wie Wasily erläuterte, und die Hauptquelle für das schwarze Lavagestein, aus dem viele Häuser und Einfriedungen auf der Insel gebaut worden waren, und ebenso die meisten Harubong.
Auf halber Höhe des Berges stießen sie auf einen kunstvoll bemalten Tempel und blieben stehen um zu verschnaufen. Vor dem Gebäude befand sich eine große Statue von Bodhisattva. Im Inneren wurden drei goldene Buddhas von Kerzen erleuchtet, die im Rhythmus des eindringlichen Gesangs von Mönchen flackerten, der aus den Wänden zu dringen schien. Ein graugewandeter Geistlicher erschien aus einem kleinen Raum im hinteren Teil des Tempels, begrüßte sie freundlich und fragte, wie ihnen die Musik gefiele.
»Sie ist wunderschön«, sagte Fischmehl in ehrfürchtigem Ton. »Aber wo sind die Sänger?«, fragte er und suchte vergeblich nach der Quelle der melodischen Klänge.
Der schlanke, drahtige Mönch grinste breit, hob die Ecke des Tischtuchs an und enthüllte die Stereoanlage, die darunter verborgen war. »Samsung. Wir sind der erste digitale Orden des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«
»Wie haben Sie das Radio zum Laufen gebracht?«
Der Mönch hob die Hände wie zum Gebet. »Buddha sorgt für uns auf unserer Suche nach Weisheit.«
»Da Sie es gerade erwähnen«, sagte Wasily, »wir suchen jemanden – einen ganz besonderen Menschen. Ich kenne ihn unter dem Namen ›L‹.«
Der hagere Mönch verzog nachdenklich das Gesicht, dann zuckte er mit den Schultern. »Mir ist er nicht bekannt – aber der Mönch in dem Kloster über uns kennt ihn wahrscheinlich. Er steht dem Buddha nahe, der Teil von allem ist.«
»Das hilft uns sicher weiter«, sagte Wasily. »Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.«
»Zu schade, dass Sie ausgerechnet im August zu uns kommen«, sagte der Mönch. »Die schönste Zeit für einen Besuch ist der April. Wegen der Rapsblüten.«
»Eigentlich war es nicht unsere Idee«, gab Fischmehl zu. »Außerdem ist beinahe alles von Schnee bedeckt.«
»Ah«, seufzte der Mönch, »Buddha sorgt für uns – aber zu manchen Zeiten ist er großzügiger, als zu anderen.«
Sie mussten ihre beschwerliche Wanderung eine weitere Stunde lang fortsetzen, bis sie die Höhle auf dem Gipfel des Berges erreichten. Darin stießen sie auf eine gewaltige, uralte Buddha-Statue. Ein weiterer graugewandeter Mönch begrüßte sie und bat sie in die Höhle. Nachdem sie ausgeruht hatten, erzählte er ihnen, wie Besucher die Wassertropfen einer Quelle, die an der hinteren Höhlenwand hinablief, mit den Händen auffingen. In der Legende hieß es, jene Tropfen seien die Tränen der Schutzgöttin des Berges.
»Man sagt«, säuselte der Mönch mit sanfter Stimme, »ein Schluck davon sichere ein langes Leben. Ein Geschenk der Göttin.«
»Wie interessant«, sagte Ham freundlich.
»Wasily? Was ist mit dir?«, fragte Fischmehl besorgt. Der Skalde konnte seine Augen nicht von der Quelle lösen.
»Nichts«, sagte Wasily rasch und seine Augen glänzten. »Ich habe mich nur gerade an eine Geschichte erinnert, die dieser ziemlich ähnlich ist.«
Sie erklärten dem Mönch, warum sie auf die Insel gekommen waren, und noch bevor sie zuende gesprochen hatten, nickte er wissend.
»Mount Halla ist der einzige größere Berg auf der Insel Cheju«, sagte der Mönch. »Bei den anderen handelt es sich nur um primitive Vulkane – eine Anzahl von Bergen, die mit ihrer Schönheit prahlen, obwohl sie nicht so hoch oder majestätisch sind wie Mount Halla. Wie dem auch sei, einer der berühmtesten und geheimnisvollsten unter ihnen ist Mount Sanbang. Die Legende besagt, dass die Götter Mount Sanbang aus der Spitze von Mount Halla geschaffen haben. Die atemberaubende Schönheit des Berges schlägt die Besucher schon beim ersten Anblick in ihren Bann, und viele Pilger sind dorthin gereist, nur um einen Blick auf seine Erhabenheit zu erhaschen. Ich kenne den Ort, an dem der Mann, den Sie suchen, seinen Wohnsitz hat. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass Sie ihn sehen dürfen – nicht allen Pilgern ist dies vergönnt. Er befindet sich in Sakyeri auf Mount Sanbang, etwa vier Stunden Fußmarsch von hier entfernt. Ich bin oft dort gewesen und würde Sie mit Vergnügen dorthin führen.«
»Vielen Dank«, sagte Wasily. »Das Angebot nehmen wir gern an.«
Nach einer
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