Der zeitlose Winter
können. Aber auch Umstehende können, ohne ihr Wissen und Zutun in Mitleidenschaft gezogen werden. Im Falle einer Galder- Umkehrungschließt das die ganze Welt ein.«
»Du hast gesagt, es gäbe drei Formen von Magie«, sagte Fischmehl. »Was ist die dritte?«
»Das Lesen der Runen – was weniger mit den Symbolen zu tun hat, die in meine Zunge geritzt sind, als vielmehr mit der Ansammlung jenes Wissens, das uns alle umgibt.«
»Da kann ich dir nicht folgen«, sagte Ham.
»Überleg dir Folgendes«, sagte Duk. »Welche Farbe hat ein Chamäleon auf einem Spiegel?«
»Was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass ›Runen lesen‹ eine Methode des Wissenserwerbs ist, die dem Prinzip gleicht, nach dem ein Chamäleon seine Farbe wählt, wenn es auf einem Spiegel sitzt.«
»Das ist sehr verwirrend.«
»Tja«, sagte das Kind achselzuckend, »so ist Zen nun einmal.«
»Ich glaube, ich verstehe das grundsätzliche Konzept«, sagte Ham, »aber worum genau geht es bei dieser › Galder- Umkehrung‹?«
»Die Umkehrung – zumindest jene Art, von der B und ich sprechen – ist das, was gerade passiert«, sagte Duk.
»Ein Neuweben«, sagte Fisch schlicht. »Wie in der Geschichte über die Nornen, die Wasily uns erzählt hat. Ohne die Prophezeiungen der Pergamentrollen hatten die Nornen kein Muster für ihren Teppich. Damit sich die Welt weiterdreht, muss ihre Geschichte aber gewebt werden.«
»Also«, sagte Ham, dem ein Licht aufgegangen war, »entflechten sie den alten Teppich und fangen wieder von vorne an.«
»Das ist keine schlechte Erklärung«, sagte Duk, »auch wenn sie sehr nordisch gefärbt ist.«
»Ich bin, was ich bin«, sagte Bragi.
»Ich wollte mich nicht beklagen«, erwiderte Duk. »Es gibt nur einfachere Erklärungen, die dem Kern dieses Ereignisses näher kommen. Im Grunde versteht man unter einer Umkehrung die Zone der Annäherung oder des Übergangs zwischen den Endpunkten eines zeitlichen Kreislaufs. Stellt sie euch wie jenen Augenblick vor, wenn der Frühling in den Sommer übergeht oder der Herbst in den Winter. Was jetzt passiert, ist fast das Gleiche, nur eben in einem größeren Rahmen.«
»Klar«, sagte Fisch, »aber normalerweise wirft der Anbruch des Winters die Erde nicht ins vorindustrielle Zeitalter zurück. Und meines Wissens dürfte ein Wechsel der Jahreszeiten niemanden in einen Minotaurus verwandeln.«
»Geht der Übergang nicht manchmal unmerklich vonstatten? Manchmal scheint der Herbst noch wochenlang dem Sommer zu gleichen, obwohl sich der Wandel den Jahreszeiten nach bereits vollzogen hat. Und wie oft fängt der Winter am Tag des Jahreszeitenwechsels an? Umgekehrt gibt es Zeiten, in denen das tatsächlich passiert, genau nach Zeitplan, und die Sonnenblumen sind an einem Morgen plötzlich von einem halben Meter Schnee bedeckt. Es gibt Mondkreisläufe und Sonnenkreisläufe, geologische Kreisläufe und sogar galaktische. Der Kreislauf, dessen Ende wir gerade erleben, könnte mit einem davon übereinstimmen oder auch nicht. Er könnte sogar die Annäherung von mehreren Kreisläufen bedeuten. Natürlich ist das Ende jedes Kreislaufs der Anfang eines neuen. Das ist der natürlichste Prozess der Welt – ein Prozess, der älter ist als wir alle. Und dem neuen Kreislauf geht eine Übergangsphase voraus, die einen Augenblick dauern kann oder ein ganzes Leben. Dieser Übergang kann weniger real sein als die Illusionen eines Bühnenzauberers. Einige Aspekte können sich jedoch auch mit einem gewissen Maß an greifbarer Realität manifestieren. In manchen Fällen ist die Umkehrung zerstörerisch, in anderen schöpferisch. Allerdings kommt es meistens zu grundlegenden Veränderungen.«
»Darin besteht das Wesen einer Galder- Umkehrung«, warf Bragi ein. »Andere Kreisläufe in der Vergangenheit stehen dem gerade endenden Kreislauf näher als der neue Kreislauf…«
»Das allem zugrunde liegende Gewebe«, unterbrach ihn Fischmehl, »das Muster würde doch dazu neigen, in die alte Form zurückzukehren, während sich die neue bildet…«
»Genau«, schloss Duk. »Und wenn man bewusst dem alten Muster folgt, verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass sich das neue Muster durchsetzt. Statt einen neuen Kreislauf mit einem neuen Muster zu beginnen, sind die Fäden am Ende des Übergangs gezwungen, dem alten Muster zu folgen. In diesem Fall ist es nicht der Kreislauf, sondern der Übergang selbst, mit dem wir uns befassen sollten. Übergänge zwischen Kreisläufen treten die ganze Zeit auf.
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