Der Zeitspieler
ständig unter Druck gestanden. Und doch war er stets im Glauben gewesen, immer noch sein Geschick selbst bestimmen zu können. Dieser Überzeugung war er jetzt nicht mehr. Trotz aller seiner Maßnahmen und Gegenmaßnahmen war er nun hier, wo ihn die Drahtzieher haben wollten.
Er wappnete sich für die Wirklichkeit. Er mußte seine Opposition auf einen Mann konzentrieren. Wenn es ihm irgendwie gelingen sollte, Grannis zu töten, wäre es vielleicht noch möglich, das Zünglein an der Waage zu seinen Gunsten zu neigen. Laut fragte er: »Werde ich erwartet?«
Sie nickte, schwieg jedoch. Mit wachsender Unruhe sah er ihr zu, wie sie die Karte ausfüllte. Er dachte an weitere Auswirkungen, die seine Identifizierung nach sich ziehen mochte. Er stellte sich bereits vor, daß er zurück in die Theraphiezelle kam und getötet wurde, während Betty Lane zuschaute. Dieser Gedanke setzte ihn unter Druck. Er brauchte nähere Informationen. »Ich verstehe nicht, woher Sie meinen Namen kennen. Wissen Sie denn von jedem, der hier ankommt, schon im vorhinein, wie er heißt?«
»O nein. Sie sind etwas Besonderes«, versicherte sie ihm. Sie blickte auf. »Sie sind doch zur Ausbildung hierhergekommen, nicht wahr?«
Ihre Frage war rein rhetorisch. Cargill gab für den Augenblick auf, herausfinden zu wollen, woher diese Leute seinen Namen erfahren hatten. Wieder lächelte ihn die junge Frau herzlich an. Sie wirkte plötzlich so jung, daß er impulsiv fragte: »Sind Sie ein Schatten?«
Das Mädchen nickte. »Ja, selbstverständlich.«
»Sie behalten also nicht immer Ihre Schattenform bei?«
»Aber wozu denn?« Ihre Stimme klang erstaunt. »Das ist ein hochspezialisiertes Daseinsstadium.« Um weiteren Fragen in dieser Richtung zuvorzukommen, sagte sie schnell: »Sind Ihnen Ihre Pflichten bekannt, wenn Sie erst selbst ein Schatten werden?«
Cargill fiel auf, daß sie »wenn« und nicht »falls« sagte. Das ermutigte ihn, sie direkt zu fragen: »Woher wissen Sie meinen Namen?«
»Zeitparadoxie.«
»Wollen Sie damit andeuten, daß bereits etwas geschehen ist, über das zwar Sie Bescheid wissen, aber nicht ich?«
Sie nickte.
»Was?« fragte Cargill gespannt.
Sie zuckte die Schultern. »Es ist wirklich ganz einfach. Aus persönlichen Gründen führen Sie seit Monaten etwas durch. Wir wissen nicht, weshalb, aber jedenfalls erregten Sie damit unsere Aufmerksamkeit.«
Cargill war vorsichtig. »Und niemand hat sich um meine Gründe gekümmert?«
Das Mädchen lächelte. »Natürlich nicht. Aber jetzt ist es meine Pflicht, Ihnen zu erklären, worin unsere Arbeit besteht.«
Cargill hielt die Fragen zurück, die ihm auf der Zunge brannten. Er zwang sich dazu, ruhig zu sitzen und sich auf die Worte der jungen Frau zu konzentrieren.
»Wir Schatten«, begann sie, »versuchen die Auswirkungen des psychologischen Unheils wiedergutzumachen, das die Menschheit seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts demoralisiert hat. Der Druck der Zivilisation war offenbar für Millionen von Menschen zu stark. Überall suchten sie davor zu fliehen, und 1980 fanden sie in den neuentwickelten Schwebern das Mittel dazu. Als es offensichtlich wurde, daß eine Massenflucht aus der Zivilisation im Gang war, forschten Psychologen aufgeregt nach den Ursachen. Wie es bisher üblich gewesen war, suchten sie jedoch nur in der unmittelbaren Vergangenheit jedes einzelnen. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie auf die Wahrheit stießen.
Es stellte sich heraus, daß es sich um eine Kombination von ererbter Schwäche und einem verständlichen Rückzug von dem unerträglichen Streß des modernen Lebens handelte. Aber der Mensch kann sich jede Art von Zivilisation schaffen, die er wünscht. Also bestand das Problem darin, bestimmte Erlebnisse, die einen Blutsverwandten – vielleicht eine, vielleicht auch mehrere Generationen zurück – ungünstig beeinflußt hatten, ungeschehen zu machen. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war einer der ersten Pioniere auf diesem Gebiet. Er nannte diese Art von psychischer Belastung ›Ahnenschatten‹. Nach vielen Jahren des Experimentierens konnte eine Technik entwickelt werden, die es ermöglichte, in die Vergangenheit zurückzugreifen und die Auswirkungen des verantwortlichen Geschehens bis zu einem bestimmten Grad zu beheben.
Die Wirksamkeit dieser Methode wird von Jahr zu Jahr offensichtlicher. Immer mehr Schweber unterziehen sich unserer Ausbildung. Bedauerlicherweise versagen die meisten, da sie von einer so niedrigen
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