Der Zementgarten
dann versammelten wir uns vor der Haustür und schauten zu, wie unsere Eltern in ihren schwarzen Kleidern zur Bushaltestelle gingen. Alle paar Meter drehten sie sich ängstlich um und winkten, und wir winkten fröhlich zurück. Als sie außer Sicht waren, schmetterte Julie mit dem Fuß die Tür zu, jauchzte auf und verpaßte mir im selben Schwung herumschnellend einen harten Stoß unten in die Rippen. Der Schlag ließ mich rückwärts gegen die Wand taumeln. Julie rannte drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch, schaute zu mir herunter und lachte. Sue und ich rasten ihr nach, und oben machten wir eine wilde, hitzige Kissenschlacht. Später errichtete ich oben auf der Treppe aus Matratzen und Stühlen eine Barrikade, die meine Schwestern stürmen wollten. Sue füllte einen Ballon mit Wasser und warf ihn mir an den Kopf. Tom stand grinsend und tapsend am Fuß der Treppe. Eine Stunde später schiß er in seiner Aufregung in die Hose, und ein ausgesucht scharfer Geruch wehte die Treppe hinauf und unterbrach unseren Kampf. Julie und Sue verbündeten sich. Sie sagten, ich hätte mich darum zu kümmern, weil ich vom selben Geschlecht wie Tom wäre. Ich berief mich unbehaglich auf die natürliche Ordnung und sagte, als Mädchen hätten offensichtlich sie die Pflicht, etwas zu unternehmen. Es kam zu keinem Beschluß, und unsere wilde Schlacht wurde fortgesetzt. Bald begann Tom zu heulen. Wir hörten wieder auf. Wir hoben Tom hoch, trugen ihn auf sein Zimmer und legten ihn in sein großes Gitterbett. Julie holte sein Laufgeschirr und band ihn fest. Sein Geschrei war mittlerweile ohrenbetäubend und sein Gesicht knallrot. Wir klappten das Seitengitter hoch und eilten aus dem Zimmer, um so schnell wie möglich weg von dem Gestank und dem Geschrei zu sein. Sobald Toms Zimmertür zu war, konnten wir kaum etwas hören, und wir spielten ganz ungerührt weiter.
Es dauerte kaum ein paar Stunden, und doch erschien mir diese Zeit wie ein ganzer Abschnitt meiner Kindheit.
»Hast du darum geweint? Weil du geschwitzt hast?«
Es dauerte kaum ein paar Stunden, und doch erschien mir diese Zeit wie ein ganzer Abschnitt meiner Kindheit. Eine halbe Stunde bevor unsere Eltern zurückkamen, begannen wir, kichernd über die drohende Gefahr, unser Durcheinander aufzuräumen. Zusammen säuberten wir Tom. Wir entdeckten das Mittagessen, für das wir viel zu beschäftigt gewesen waren und kippten es ins Klo. Den ganzen Abend waren wir außer uns wegen des gemeinsamen Geheimnisses. Im Pyjama drängelten wir uns zusammen in Julies Zimmer und sprachen darüber, wie wir es bald »wieder einmal machen« wollten.
Als meine Mutter starb, lag unter meinen stärksten Regungen ein Gefühl von Abenteuer und Freiheit, das ich mir kaum einzugestehen wagte und das von der Erinnerung an diesen Tag vor fünf Jahren herstammte. Aber diesmal war es nicht aufregend. Die Tage waren zu lang, es war zu heiß, das Haus schien eingeschlafen. Wir saßen nicht einmal draußen, weil der Wind aus der Richtung der Wohnblöcke und der Durchgangsstraßen dahinter einen feinen schwarzen Staub herwehte. Und so heiß es war, brach die Sonne doch nie ganz durch eine gelbliche Wolke hoch oben; alles, was ich ansah, floß ineinander und wirkte unbedeutend in dem hellen Licht. Tom war als einziger zufrieden, wenigstens tagsüber. Er hatte seinen Freund, mit dem er im Sand gespielt hatte. Tom schien nicht zu bemerken, daß der Sand weg war, und auch sein Freund erwähnte nie die Geschichte, die ich ihm über seine Mutter angedreht hatte. Sie spielten weiter oben an der Straße in und vor den zerfallenen Fertighäusern. Abends, wenn sein Freund heimgegangen war, war Tom übellaunig und weinte leicht. Er kam meistens zu Julie, wenn er Aufmerksamkeit brauchte, und ging ihr auf die Nerven. »Frag doch nicht dauernd mich«, fuhr sie ihn dann an. »Laß mich mal eine Minute in Frieden, Tom.« Aber das änderte nichts. Tom hatte fest beschlossen, daß Julie jetzt für ihn sorgen müsse. Er lief flennend hinter Julie her, und schenkte Sue und mir keine Beachtung, wenn wir ihn ablenken wollten. Eines Abends, noch ziemlich früh, als Tom besonders lästig war, und Julie gereizter als gewöhnlich, packte sie ihn im Wohnzimmer und riß ihm die Kleider herunter.
»So«, sagte sie immer wieder, »jetzt bist du dran.«
»Was machst du da«, sagte Sue über Toms Schluchzen hinweg.
»Wenn er bemuttert sein will«, schrie Julie, »dann soll er mal damit anfangen, daß er macht, was ich ihm sage.
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