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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Er geht ins Bett.« Es war kaum fünf Uhr nachmittags. Als Tom nackt war, hörten wir sein Geschrei und einlaufendes Badewasser. Zehn Minuten danach stand Tom wieder vor uns da und ließ sich, völlig gedrückt, von Julie nach oben in sein Zimmer führen. Sie kam herunter, klopfte sich nicht vorhandenen Staub von den Handflächen und lächelte breit.
    »Sowas hat er gebraucht«, sagte sie.
    »Sowas kannst du auch am besten«, sagte ich. Es klang säuerlicher, als ich wollte. Julie trat mich leicht gegen den Fuß.
    »Paß bloß auf«, murmelte sie, »sonst bist du als Nächster dran.«
    Sobald wir drunten im Keller fertig gewesen waren, waren Julie und ich ins Bett gegangen. Weil Sue in der Nacht etwas geschlafen hatte, blieb sie wach und paßte den Tag über auf Tom auf. Ich wachte spätnachmittags auf, überaus durstig und verschwitzt. Unten war niemand, aber ich meinte Toms Stimme irgendwo draußen zu hören. Als ich mich bückte, um vom Küchenhahn zu trinken, summte mir ein Schwärm Fliegen ums Gesicht. Ich ging auf den Außenkanten meiner nackten Füße, weil der Boden um das Becken mit etwas Gelbem und Klebrigem bedeckt war, wahrscheinlich verschütteter Orangensaft. Noch taumelig vor Schlaf ging ich hinauf zu Sue ins Zimmer. Sie saß auf dem Bett mit dem
    Rücken gegen die Wand. Sie hatte die Knie hochgezogen und ein offenes Notizbuch im Schoß. Sie legte den Bleistift weg, als ich hereinkam, und klappte das Buch zu. Es war stickig, als wäre sie schon stundenlang hier. Ich setzte mich auf die Bettkante ziemlich nah zu ihr. Ich wollte reden, aber nicht über die vergangene Nacht. Ich wollte, daß mir jemand den Kopf streichelte. Sue preßte die Lippen zusammen, als sei sie entschlossen, nicht als erste zu sprechen. »Was machst du?« sagte ich schließlich und starrte ihr Notizbuch an.
    »Nichts«, sagte sie, »ich schreib bloß.« Sie hielt sich das Notizbuch mit beiden Händen gegen den Bauch.
    »Was schreibst du?« Sie seufzte.
    »Nichts. Ich schreib bloß.« Ich riß ihr das Buch aus den Händen, drehte ihr den Rücken zu und öffnete es. Bevor sie den Arm darüber legen konnte, hatte ich Zeit gehabt, oben auf einer Seite zu lesen, »Dienstag, Liebe Mammi«.
    »Gib das her«, schrie Sue, und ihre Stimme war so fremdartig, so unerwartet heftig, daß ich ihr es kampflos überließ. Sie legte das Buch unter ihr Kopfkissen und setzte sich auf die Bettkante und starrte auf die Wand vor sich. Sie war rot im Gesicht, und ihre Sommersprossen waren dunkler als sonst. Die Pulsader an ihren Schläfen war hervorgetreten und klopfte zornig. Ich zuckte mit den Achseln und beschloß zu gehen, aber sie blickte nicht auf. Als ich durch die Tür war, schlug sie sie zu und schloß sie ab, und wie ich wegging, hörte ich sie weinen. Ich klopfte an ihre Tür und rief sie. Durch ihr Schluchzen sagte sie, ich solle weggehen, und das tat ich dann auch. Ich ging ins Bad und wusch mir den getrockneten Zement von den Händen.
    Die ganze Woche nach dem Begräbnis hatten wir kein gekochtes Essen. Julie ging aufs Postamt Geld holen und kam mit vollen Einkaufstaschen zurück, aber das mitgebrachte Gemüse und Fleisch lag unberührt herum, bis wir es wegwerfen mußten. Stattdessen aßen wir Brot, Käse, Erdnußbutter, Kekse und Obst. Tom stopfte sich mit Schokoladetafeln voll und brauchte sonst anscheinend nicht viel. Wenn jemand welchen machen wollte, tranken wir Tee, aber meistens nur Wasser aus dem Küchenhahn. Am Tag, als Julie die Einkäufe heimbrachte, gab sie Sue und mir je zwei Pfund.
    »Wieviel kriegst du denn?« fragte ich sie. Sie schnippte den Geldbeutel zu.
    »Genau wie ihr«, sagte sie. »Der Rest ist für Essen und so.«
    Bald danach war die Küche ein Ort des Gestanks und der Fliegenschwärme. Niemand hatte Lust, mehr dagegen zu tun, als die Küchentür geschlossen zu halten. Es war zu heiß. Dann warf jemand, nicht ich, das Fleisch weg. Aufgemuntert wusch ich ein paar Milchflaschen aus, hob leere Tüten auf und schlug etwa ein Dutzend Fliegen tot. Am selben Abend sagte Julie zu Sue und mir, wir müßten endlich was mit der Küche unternehmen. Ich sagte, »Ich hab dort heute eine Menge gemacht, was ihr zwei anscheinend gar nicht bemerkt habt.« Die Mädchen lachten.
    »Zum Beispiel?« sagte Sue, und als ich es ihnen erzählte, lachten sie noch einmal, lauter als nötig.
    »Naja«, sagten sie zueinander, »dann hat er ja seinen Teil für die nächsten paar Wochen getan.« Ich entschied mich dafür, in der Küche nichts

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