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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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daß die andern zu Haus waren. Ich zog mich ganz aus und legte mich unters Bettuch. Einige Zeit darauf wurde ich aus einem schweren Schlaf geweckt von schrillem Lachen. Ich war neugierig, aber aus irgendeinem Grund bewegte ich mich nicht gleich. Ich wollte lieber zuhören. Die Stimmen waren die von Julie und Sue. Nach jedem Lachausbruch machten sie ein seufzendes, singendes Geräusch, das in unverständliche Worte überging. Dann begann das Lachen von neuem. Ich war reizbar nach meinem plötzlichen Schlaf. Mein Kopf fühlte sich eng und eingeschrumpft an, die Dinge im Zimmer schienen bedrängend, verkeilt in den Raum, den sie einnahmen, und zum Bersten gespannt. Meine Kleider wirkten, als seien sie aus Stahl, bevor ich sie aufhob und anzog. Als ich angekleidet war, stellte ich mich vor mein Zimmer und horchte. Ich hörte nur eine murmelnde Stimme und einen knarrenden Stuhl. Ich ging so leise wie möglich die Treppe hinunter. Ich hatte den starken Wunsch, meine Schwestern zu belauschen, unter ihnen und doch unsichtbar zu sein. Unten in der Diele war es völlig dunkel. Ich konnte etwas abseits der offenen Wohnzimmertür stehen, ohne entdeckt zu werden. Sue konnte ich deutlich sehen, sie saß am Tisch und schnitt etwas mit einer großen Schere zu. Julie, die zum Teil vom Türrahmen verdeckt war, stand mit dem Rücken zu mir, und ich konnte nicht sehen, was sie machte. Ihr Arm bewegte sich mit einem schwachen schabenden Geräusch hin und her. Als ich mich bewegte, um besser sehen zu können, trat ein kleines Mädchen von Julie weg und stellte sich neben Sue. Julie drehte sich auch um und stellte sich hinter das Mädchen mit einer Hand auf seiner Schulter. In der anderen Hand hielt sie eine Haarbürste. Eine Zeitlang blieben sie so gruppiert, ohne zu sprechen. Als Sue sich etwas drehte, sah ich, daß sie blauen Stoff zerschnitt. Das kleine Mädchen lehnte sich zurück gegen Julie, die unter seinem Kinn die Hände verschränkt hielt und ihm dabei mit der Haarbürste sanft auf die Brust klopfte.
    Sobald das kleine Mädchen sprach, wußte ich natürlich, daß es Tom war. Er sagte, »Das braucht aber lang, nicht?« und Sue nickte. Ich ging ein paar Schritte weit ins Zimmer und wurde nicht bemerkt. Tom und Julie schauten Sue gespannt zu, die einen ihrer Schulröcke änderte. Sie hatte ihn gekürzt und fing jetzt an zu nähen. Tom trug ein orangenes Kleid, das mir bekannt vorkam, und irgendwo hatten sie eine Perücke aufgegabelt. Sein Haar war blond und dicht gelockt. Wie leicht es war, jemand anderer zu sein. Ich verschränkte die Arme und hielt mich umarmt. Es sind nur Kleider und eine Perücke, dachte ich, Tom ist verkleidet. Aber ich sah eine andere Person, jemand, der ein ganz anderes Leben als Tom vor sich hatte. Ich war aufgeregt und verängstigt. Ich preßte die Hände zusammen, und die Bewegung ließ alle drei sich umdrehen und mich anschauen.
    »Was macht ihr da?« sagte ich nach einer Stille.
    »Ihn verkleiden«, sagte Sue und wandte sich wieder dem Nähen zu.
    Tom schaute kurz zu mir her, drehte sich halb dem Tisch zu, an dem Sue arbeitete, und starrte unverwandt in eine Zimmerecke. Er spielte mit dem Saum seines Kleides und rollte den Stoff zwischen Zeigefinger und Daumen.
    »Was soll das Ganze?« sagte ich. Julie zuckte die Achseln und lächelte. Sie trug ausgebleichte Jeans, die sie bis über die Knie hochgekrempelt hatte, und ein offenes Hemd über ihrem Bikinioberteil. Sie hatte sich ein Stück blaues Band ins Haar geknüpft und hielt ein zweites in der Hand, das sie sich um den Finger wickelte.
    Julie kam und stellte sich vor mich hin. »Ach, komm«, sagte sie, »lach doch mal, du trübe Tasse.« Sie roch süß nach ihrem
    Sonnenöl und ich konnte die Wärme spüren, die von ihrer Haut ausging. Sie mußte den ganzen Tag irgendwo in der Sonne gewesen sein. Sie wickelte sich das Band vom Finger und drapierte es mir um den Hals. Ich schob ihre Hände weg, als sie mir unter dem Kinn eine Schleife zu binden begann, aber ich tat es ohne Überzeugung, und sie beharrte und knüpfte den Knoten zu Ende. Sie nahm mich bei der Hand, und ich ging hinter meiner Schwester zum Tisch.
    »Da ist noch einer«, sagte sie zu Sue, »der kein miesepetriger Junge mehr sein will.« Ich hätte mir gern das Band abgemacht, aber ich wollte Julies Hand nicht loslassen, die trocken und kühl war. Nun sahen wir alle Sue über die Schulter zu. Ich hatte nie bemerkt, wie geschickt sie beim Nähen war. Ihre Hand flog vor und zurück mit der

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