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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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mehr anzurühren, und daraufhin waren Julie und Sue auch entschlossen, dort nicht mehr aufzuräumen. Erst als wir ein paar Tage später ein Essen kochten, geschah endlich etwas. Mittlerweile hatten sich die Fliegen übers Haus verteilt, hingen in dünnen Schwärmen bei den Fenstern, wo sie sich mit einem andauernden Klicken gegen die Scheiben warfen.
    Ich onanierte jeden Morgen und Nachmittag und ließ mich durchs Haus treiben, von einem Zimmer ins andere, manchmal überrascht, mich auf einmal in meinem Zimmer zu finden, wo ich auf dem Rücken liegend an die Decke starrte, wenn ich doch in den Garten hatte gehen wollen. Ich betrachtete mich aufmerksam im Spiegel. Was war nicht richtig an mir? Ich versuchte, mir mit dem Spiegelbild meiner Augen Angst zu machen, aber ich wurde dabei nur ungeduldig und fühlte mich leise angeekelt. Ich stellte mich in die Mitte des Zimmers und hörte dem fernen, gleichmäßigen Verkehrslärm zu. Dann hörte ich die Stimmen der Kinder, die auf der Straße spielten. Die zwei Geräusche flossen ineinander und schienen mir oben auf den Kopf zu drücken. Ich legte mich wieder aufs Bett und schloß diesmal die Augen. Als mir eine Fliege übers Gesicht lief, wollte ich mich auf keinen Fall bewegen. Ich konnte es auf dem Bett nicht mehr aushalten, und doch widerte mich jede Tätigkeit an, schon wenn ich an sie dachte. Um mich aufzurappeln, dachte ich an meine Mutter drunten. Sie war für mich nichts mehr als eine Tatsache. Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte einige Minuten lang über das vertrocknete Unkraut hin zu den Wohnblöcken. Dann suchte ich im Haus herauszufinden, ob Julie zurück war. Sie verschwand oft, gewöhnlich nachmittags und ganze Stunden lang. Wenn ich sie fragte, wo sie gewesen war, antwortete sie, ich sollte mich nicht in ihre Sachen mischen. Julie war nicht da, und Sue hatte sich in ihr Zimmer eingesperrt. Wenn ich an ihre Türe klopfte, fragte sie mich, was ich wollte, und ich wußte dann nicht, was sagen. Ich dachte an die zwei Pfund. Ich ging hinten zum Haus hinaus und kletterte über den Zaun, damit Tom mich nicht sah und mitkommen wollte. Aus keinem bestimmten Grund fing ich an, zu den Geschäften hinzurennen.
    Ich hatte keine Ahnung, was ich wollte. Ich dachte, ich würde es schon erkennen, wenn ich es sähe, und selbst wenn es teurer als zwei Pfund wäre, hätte ich dann doch etwas, was ich wollte, über das ich nachdenken könnte. Ich rannte, bis ich da war. Die Hauptgeschäftsstraße war leer bis auf die Autos. Es war Sonntag. Der einzige Mensch, der zu sehen war, war eine Frau in einem roten Mantel, die auf einer Fußgängerbrücke über der Straße stand. Ich wunderte mich, daß sie bei einer solchen Hitze einen roten Mantel trug. Sie wunderte sich vielleicht, daß ich rannte, denn sie schien zu mir her zu starren. Sie war noch weit weg, aber sie kam mir bekannt vor. Sie konnte gut eine Lehrerin an meiner Schule sein. Ich ging auf die Fußgängerbrücke zu, weil ich nicht so schnell umkehren wollte. Beim Gehen starrte ich links in die Schaufenster. Ich traf ungern Lehrer auf der Straße. Ich dachte, ich könnte unter ihr durchgehen, wenn sie noch dastand, und so tun, als hätte ich sie nicht gesehen. Aber fünfzig Meter vor der Brücke konnte ich nicht widerstehen und blickte hinauf. Die Frau war meine Mutter und sie sah mich direkt an. Ich blieb stehen. Sie hatte ihr Gewicht auf den anderen Fuß verlagert, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Ich ging weiter auf sie zu. Ich fand es schwierig, meine Beine in Bewegung zu setzen, und mein Herz klopfte so schnell, daß ich sicher war, mir würde übel werden. Als ich fast unter der Brücke war, blieb ich wieder stehen und blickte hinauf. Mit dem Wiedererkennen überkam mich große Erleichterung, und ich lachte laut. Es war natürlich nicht Mutter, es war Julie in einem Mantel, den ich noch nie gesehen hatte.
    »Julie!« rief ich hinauf, »ich dachte, du.« Ich rannte unter der Brücke durch und eine Holztreppe hoch. Vor ihr stehend, sah ich, daß es auch nicht Julie war. Sie hatte ein mageres Gesicht und strähniges grauweißes Haar. Ich konnte nicht erkennen, ob sie jung oder alt war. Sie steckte die Hände tief in die Taschen und schwankte leicht.
    »Hab kein Geld nicht«, sagte sie, »also rühr mich nicht an.«
    Beim Heimgehen kam die Leere zurück, und das Tagesereignis verlor allmählich jede Bedeutung. Ich ging gradewegs hinauf in mein Zimmer, und obwohl ich niemand traf oder hörte, wußte ich,

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