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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ich sagte, »Es gibt alles mögliche zu tun«, nur damit Sue nochmal sagte, es gebe nichts. Aber sie sog nur ihre dünnen, blassen Lippen ein, wie es Frauen machen, wenn sie Lippenstift aufgetragen haben, und sagte, »Zu was anderem habe ich keine Lust.« Danach saßen wir ziemlich lange schweigend da. Sue pfiff, und ich spürte, daß sie darauf wartete, daß ich ging. Wir hörten unten die hintere Tür aufgehen, und die Stimmen von Julie und ihrem Freund. Ich wünschte mir, Sue würde Derek genausowenig mögen wie ich, dann hätten wir über alles mögliche reden können. Sie hob ihre dünnen Brauen und sagte, »Das werden sie sein«, und ich sagte, »Und?«, und fühlte mich abgeschnitten von allen, die ich kannte.
    Sue fing wieder zu pfeifen an, und ich blätterte in einer Illustrierten, aber wir lauschten beide aufmerksam. Sie kamen nicht herauf. Ich hörte Wasser laufen und Teetassen klappern. Ich sagte zu Sue, »Du schreibst doch immer noch in dein Buch, oder?« Sie sagte, »Ein bißchen«, und sah nach ihrem Kopfkissen hin, als wäre sie darauf vorbereitet, mich zu hindern, wenn ich danach greifen wollte. Ich wartete einen Augenblick und sagte dann mit einer sehr traurigen Stimme, »Wenn du mich nur die Stellen über Mammi lesen lassen würdest, nur die. Du könntest sie mir ja vorlesen, wenn dir das lieber ist.« Von unten kam das Radio mit voller Lautstärke. »Wenn du jemals fährst nach Westen... nimm meinen Weg, der ist am besten.« Das Lied ging mir auf die Nerven, aber ich sah weiter traurig meine Schwester an.
    »Du könntest ja doch nichts davon verstehen.«
    »Wieso nicht?«
    Sue sprach schnell. »Du hast nie etwas verstanden, was mit ihr zu tun hatte. Du warst immer scheußlich zu ihr.«
    »Das ist gelogen«, sagte ich laut, und ein paar Momente danach wiederholte ich, »Das ist gelogen.« Sue saß auf der Bettkante mit aufrechtem Rücken und einer Hand auf dem Kissen. Als sie sprach, starrte sie düster vor sich hin.
    »Du hast nie gemacht, worum sie dich gebeten hat. Du hast nie bei irgendwas geholfen. Du warst immer zu sehr mit dir selbst beschäftigt, genau wie jetzt auch.« Ich sagte, »Ich hätte nicht von ihr geträumt, wenn sie mir egal gewesen wäre.«
    »Du hast auch nicht von ihr geträumt«, sagte Sue, »du hast von dir selbst geträumt. Deswegen willst du in meinem Tagebuch lesen, damit du siehst, ob etwas über dich drinsteht.«
    »Gehst du in den Keller hinunter«, sagte ich unter Gelächter, »und setzt dich dort auf den Hocker und schreibst über uns alle in dein kleines schwarzes Buch?«
    Ich zwang mich zum Weiterlachen. Ich war verstört und mußte viel Lärm machen. Beim Lachen legte ich die Hände auf die Knie, aber konnte sie nicht so recht fühlen. Sue sah mir zu, als erinnerte sie sich mehr an mich, als daß sie mich sähe. Sie holte das Buch unter ihrem Kissen hervor, öffnete es und suchte eine Seite. Ich hörte zu lachen auf und wartete.
    »Neunter August. Du bist seit neunzehn Tagen tot. Keiner hat dich heute erwähnt.« Sie hielt inne, und ihr Blick wanderte ein paar Zeilen weiter. »Jack war in einer scheußlichen Laune. Er hat Tom wehgetan, weil er Lärm gemacht hatte. Er machte ihm einen langen Kratzer am Kopf, und es ist ziemlich viel Blut gekommen. Zum Mittagessen haben wir zwei Dosen mit Suppe zusammengeschüttet. Jack redete mit niemand. Julie redete von ihrem Typ, er heißt Derek. Sie sagte, vielleicht brächte sie ihn einmal mit nach Hause, und ob wir was dagegen hätten. Ich sagte nein. Jack stellte sich taub und ging hinauf.« Sue schlug eine andere Seite auf und las mit mehr Ausdruck, »Seit du tot bist, hat er die Wäsche nicht gewechselt. Er wäscht sich nicht die Hände oder sonstwas und stinkt furchtbar. Es ist uns zuwider, wenn er den Brotlaib anfaßt. Man kann nichts zu ihm sagen, weil er sonst zuschlägt. Immer will er jemand schlagen, aber Julie weiß mit ihm umzugehen.« Sue hielt inne, und wollte anscheinend fortfahren, aber dann besann sie sich anders und klappte das Buch zu. »So«, sagte sie. Danach stritten wir einige Minuten lang matt darüber, was Julie beim Mittagessen gesagt hatte.
    »Sie hat niemanden erwähnt, den sie heimbringen wollte«, sagte ich.
    »Doch!«
    »Nein.« Sue hockte sich auf den Boden vor eins ihrer Bücher und übersah mich, als ich hinausging.
    Drunten spielte das Radio lauter, als ich es jemals gehört hatte. Ein Mann schrie wie wild etwas von einem Wettbewerb. Ich fand Tom oben auf der Treppe sitzen. Er trug einen

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