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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Zeitung?« Sue nannte das lokale Wochenblatt, und ich lachte.
    »Die schreiben über jeden«, sagte ich, »wenn er nur lang genug lebt.« »Wetten, daß du nicht rätst, wie alt er ist.« Ich gab keine Antwort.
    »Dreiundzwanzig«, sagte Sue stolz und lächelte mich an. Ich hatte Lust, sie zu schlagen.
    »Was ist denn daran so erstaunlich?«
    Sue trocknete sich die Hände ab. »Das ist genau das richtige Alter für einen Typ.«
    Ich sagte, »Wovon redest du eigentlich? Wer sagt denn das?«
    Sue zögerte. »Julie hat das gesagt.«
    Ich schnappte nach Luft und rannte aus der Küche. Im Wohnzimmer blieb ich stehen und suchte nach Commander Hunt. Jemand hatte ihn in ein Bücherregal verstaut. Ich rannte mit dem Buch hinauf ins Zimmer, knallte die Tür zu und legte mich aufs Bett.
      
      
8
    Immer öfter wurden aus meinen schlechten Träumen Alpträume. In der Diele stand eine riesige Holzkiste, an der ich schon dutzendmal achtlos vorbeigegangen sein mußte. Diesmal blieb ich stehen und sah sie mir an. Der Deckel, der immer fest angenagelt gewesen war, hing lose herunter, von den Nägeln waren einige umgebogen, und das Holz in ihrer Nähe war gesplittert und weiß. Ich stand so nah bei der Kiste, daß ich gerade noch nicht hineinsehen konnte. Ich wußte, ich war in einem Traum, und es war wichtig, nicht den Kopf zu verlieren. Es war etwas in der Kiste. Ich schaffte es, die Augen ein wenig zu öffnen und sah eine untere Ecke des Betts, bevor sie wieder schwer zufielen. Ich war wieder in der Diele, etwas näher bei der Kiste, und lugte unbesonnen hinein. Als ich es mit meinen Augen wieder versuchte, öffneten sie sich leicht und weit. Ich sah die Bettecke und ein paar Kleider von mir. In einem großen Sessel neben dem Bett saß meine Mutter und starrte mich mit riesigen hohlen Augen an. Das kommt, weil sie tot ist, dachte ich. Sie war winzig und ihre Füße reichten kaum auf den Boden. Als sie sprach, war ihre Stimme so vertraut, daß ich mir nicht mehr vorstellen konnte, wie ich sie so leicht hatte vergessen können. Aber ich verstand nicht genau, was sie sagte. Sie gebrauchte ein sonderbares Wort, »drubbeln« oder »bruddeln«.
    »Mußt du denn immer drubbeln«, sagte sie, »sogar wenn ich mit dir rede?«
    »Ich tu doch gar nichts«, sagte ich und bemerkte, als ich nach unten sah, daß auf dem Bett keine Laken waren, und daß ich nackt war und vor ihr onanierte. Mein Hand flog vor und zurück wie ein Weberschiffchen. Ich sagte zu ihr, »Ich kann nicht aufhören, es liegt nicht an mir.«
    »Was würde dein Vater dazu sagen«, sagte sie traurig, »wenn er noch am Leben wäre?« Noch im Aufwachen sagte ich laut, »Aber ihr seid ja beide tot.«
    Eines Nachmittags erzählte ich Sue diesen Traum. Als sie die Tür aufsperrte, um mich reinzulassen, sah ich, daß sie ihr Notizbuch offen in einer Hand hielt. Während sie mir zuhörte, machte sie es zu und schob es unter ihr Kopfkissen. Zu meiner Überraschung mußte sie über meinen Traum kichern.
    »Tun Jungs das die ganze Zeit?« fragte sie.
    »Was?«
    »Naja, drubbeln.«
    Statt ihr zu antworten, sagte ich, »Weißt du noch, wie wir damals immer das Spiel spielten?«
    »Welches Spiel?«
    »Wo Julie und ich Ärzte waren und dich untersuchten, und du von einem andern Planeten warst.« Meine Schwester nickte und verschränkte die Arme. Ich zögerte. Ich hatte keine Ahnung, was ich als nächstes sagen sollte.
    »Und, was ist damit?« Ich war gekommen, um über meinen Traum und über Mutter zu reden, und schon sprachen wir von etwas anderem.
    »Möchtest du nicht«, sagte ich langsam, »daß wir das immer noch spielen?« Sue schüttelte den Kopf und sah weg.
    »Ich kann mich kaum noch dran erinnern.«
    »Julie und ich haben dir dabei immer alle Kleider ausgezogen.« Es klang unwahrscheinlich, als ich es sagte. Sue schüttelte wieder den Kopf und sagte ohne Überzeugungskraft, »Im Ernst? So genau weiß ich es nicht mehr, ich war ja auch noch nicht so alt.« Sie schwieg und fuhr dann herzlich fort, »Wir haben immer alberne Spiele gemacht.«
    Ich setzte mich auf Sues Bett. Der Fußboden in ihrem Zimmer war voller Bücher, manche aufgeschlagen und umgekehrt hingelegt. Viele waren aus der Leihbibliothek, und ich wollte gerade eins davon aufheben, als mir auf einmal alles überdrüssig wurde, was mit Büchern irgendwie zusammenhing. Ich sagte, »Wirst du es nie leid, den ganzen Tag hier herumzusitzen und zu lesen?«
    »Ich lese gern«, sagte Sue, »und sonst gibt’s nichts zu tun.«

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