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Der Zementgarten

Der Zementgarten

Titel: Der Zementgarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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auf seinem Kreuz. Sie lächelte mir zu, und ich legte die Hand auf den Türknauf, um nicht zu taumeln. Ich kam mir vor, als hätte ich kein Gewicht und könnte davonschweben.
    »Schau nicht so überrascht«, sagte Julie, »Tom will ein kleines Baby sein.« Sie legte ihm ihr Kinn auf den Kopf und fing an, sich leicht hin- und herzuwiegen. »Er war so ein schlimmer Junge heute nachmittag«, fuhr sie fort, und sprach dabei mehr zu ihm als zu mir, »und da haben wir miteinander geredet und dabei eine Menge Sachen beschlossen.« Toms Augen fielen allmählich zu. Ich setzte mich nah zu Julie an den Tisch, aber so, daß ich Toms Gesicht nicht sehen konnte. Ich stocherte in kalten Speckstücken in der Pfanne herum. Julie wiegte sich und summte leise vor sich hin.
    Tom war eingeschlafen. Ich hatte mit Julie über Derek sprechen wollen, aber sie stand jetzt mit Tom im Arm auf, und ich ging hinter ihnen die Treppe hinauf. Julie stieß mit dem Fuß die Schlafzimmertür auf. Sie hatte vom Keller unser altes Messinggitterbett heraufgeholt und dicht neben das ihre gestellt. Es war schon ganz hergerichtet, und das Gitter auf einer Seite heruntergelassen. Es ärgerte mich, das Messingbett und das ihre so nah beieinander stehen zu sehen.
    Ich zeigte darauf und sagte, »Warum hast du es nicht in seinem Zimmer aufgestellt?« Julie stand mit dem Rücken zu mir und legte Tom im Gitterbett nieder. Er saß leicht schwankend da, während ihm Julie die Kleider aufknöpfte. Seine Augen standen offen.
    »Er wollte es hier drin haben, nicht wahr, mein Süßer?« Tom nickte und krabbelte zwischen die Laken. Julie ging zum Fenster und zog die Vorhänge zu. Ich ging in das Halbdunkel hinein und stellte mich an den Fuß des Gitterbetts. Sie drängte sich an mir vorbei, küßte ihn auf den Kopf und schloß sorgfältig das Gitter. Tom war anscheinend augenblicklich eingeschlafen. »So ist’s brav«, flüsterte Julie, nahm mich an der Hand und führte mich aus ihrem Zimmer.
      
      
9
    Nicht lang nachdem Sue mir aus ihrem Tagebuch vorgelesen hatte, begann ich einen Geruch an meinen Händen zu bemerken. Er war süß und schwach faulig, und war mehr an den Fingern als an den Handflächen, vielleicht sogar zwischen den Fingern. Er erinnerte mich an das Fleisch, das wir weggeworfen hatten. Ich hörte auf zu onanieren. Ich fühlte mich ohnehin nicht danach. Wenn ich die Hände gewaschen hatte, rochen sie nur nach Seife, aber sobald ich den Kopf abwandte und mir mit einer Hand schnell vor der Nase hin-und herfuhr, war der schlechte Geruch über dem Seifenduft gerade noch spürbar wieder da. Ich nahm mitten am Nachmittag lange Bäder und lag vollkommen still ohne einen Gedanken, bis das Wasser kalt war. Ich schnitt mir die Nägel, wusch mir die Haare und suchte mir saubere Wäsche. Nach einer halben Stunde war der Geruch wieder zurückgekehrt, so entfernt, daß er eher der Erinnerung an einen Geruch glich. Julie und Sue rissen Witze über mein Aussehen. Sie sagten, ich machte mich fein für eine heimliche Freundin. Immerhin wurde Julie dank meinem veränderten Äußeren freundlicher zu mir. Sie kaufte mir im Schlußverkauf zwei Hemden, die fast neu waren und gut saßen. Ich stellte mich vor Tom und kribbelte mit den Fingern vor seiner Nase herum. Er sagte, »Wie ein Fischi«, mit seiner lauten neuen Babystimme. Ich holte mir das medizinische Hauslexikon und schaute unter Krebs nach. Ich dachte, ich faulte vielleicht an einer schleichenden Krankheit dahin. Ich schaute in den Spiegel und versuchte, meinen Atem in den hohlen Händen einzufangen. Eines Abends regnete es endlich, gußartig. Jemand hatte mir einmal gesagt, Regen sei das reinste Wasser auf der Welt, und daher zog ich Hemd, Schuhe und Socken aus und stellte mich mit ausgestreckten Armen oben in den Steingarten. Sue kam an die Küchentür und fragte mich laut, über das Geräusch des Regens hinweg, was ich da täte. Sie ging weg und kam mit Julie wieder. Sie riefen mich und lachten, und ich kehrte ihnen den Rücken zu.
    Beim Abendessen hatten wir Streit. Ich sagte, es hätte zum erstenmal geregnet, seit Mutter gestorben sei. Julie und Sue sagten, es hätte seither schon mehrmals geregnet. Als ich sie fragte, wann genau, sagten sie, sie wüßten es nicht mehr. Sue sagte, sie wüßte, daß sie den Regenschirm benutzt hätte, weil er jetzt in ihrem Zimmer sei, und Julie sagte, sie könne sich an das Geräusch der Scheibenwischer in Dereks Wagen erinnern. Ich sagte, das beweise gar nichts. Sie wurden

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