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Der zerbrochene Himmel

Der zerbrochene Himmel

Titel: Der zerbrochene Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
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Tag rief der Lehrer Michilino zur Tafel und sagte, er solle mit der Kreide einen Strich von oben nach unten zeichnen. Michilino versuchte es, doch der Strich neigte sich völlig nach links.
    »Zeichne ihn besser.«
      Michilino strengte sich an, damit der Strich nicht nach links fiel, und das Ergebnis war, daß er ganz nach rechts hing. Die Klassenkameraden fingen an zu lachen. Signor Panseca, der Lehrer, wurde zornig.
    »Ich will euch mal sehen, wenn ich euch zur Tafel rufe, wie dumm ihr dastehen würdet! Dann solltet ihr mal das Gelächter hören! Versuch's noch einmal!«
      Michilino gab sich Mühe, er strengte sich an, dem Strich weder eine Links- noch eine Rechtsneigung zu geben. Auf der Tafel erschien so etwas wie eine vorwärtskriechende Schlange. Mit einem flammenden Blick brachte der Lehrer die Klasse zu eisiger Ruhe.
      »Den ersten, der sich untersteht zu lachen, befördere ich mit Fußtritten hinaus!«
      Und dann fragte er mit düsterer Miene: »Kannst du keine Linien zeichnen?«
    »Nein«, antwortete Michilino beschämt.
      »Dann brauchst du ein ganzes Leben, um Lesen und Schreiben zu lernen!« kommentierte der Herr Lehrer bissig.
      »Aber ich kann doch schon lesen und schreiben«, sagte Michilino.
    »Ach ja? Erzählst du mir da auch keine Lügengeschichten?«
      »Ich erzähle keine Lügengeschichten. Lügengeschichten bringen unseren Herrn Jesus zum Weinen.«
      »Und auch Mussolini tut es weh, wenn jemand Lügen erzählt, aber er weint nicht, denn er ist ein starker Mann«, sagte Signor Panseca, der Lehrer.
      Er nahm eine Zeitung, die er gefaltet in der Tasche hielt, öffnete sie und legte sie Michilino vor.
    »Was steht hier?«
    »Il Popolo d'Italia.«
    »Und hier?«
    »Gegründet von Benito Mussolini.«
    »Und hier?«
    »17. September 1935.«
    Die Klasse klatschte in die Hände. Michilino fühlte sich mächtig stolz.
      »Ruhe!« sagte der Herr Lehrer. »Nimm jetzt die Kreide und schreib auf, was dir als erstes einfällt.«
      Michilino dachte einen Augenblick nach, und dann schrieb er: »Ich liebe Jesus, Mussolini, Papà und Mamà.«
      Die Klassenkameraden wußten nicht, was Michilino geschrieben hatte, sie verstanden aber, daß er das getan hatte, was der Lehrer wollte. Diesmal wurde das Klatschen von Tritten und Faustschlägen auf die Bänke begleitet. Plötzlich flog die Tür auf, und ein Sechzigjähriger kam herein, der aussah wie ein Zwerg mit schwarzem Hemd, dem Abzeichen am Knopfloch und einer Zigarre im Mund.
    »Was geht hier vor sich?« fragte er herrisch.
    Signor Panseca, der Lehrer, stand auf und grüßte römisch.
    »Signor Direttore!«
    Der andere blickte ihn an, erwiderte den Gruß aber nicht.
    »Ich habe gefragt, was in dieser Klasse vor sich geht.«
      »Schauen Sie sich den Satz an der Tafel an, Signor Direttore. Dieser Junge hier hat ihn geschrieben. Was soll der denn im ersten Schuljahr?«
      »Wie heißt du?« fragte der Rektor, den diese Sache durchaus nicht zu verwundern schien.
    »Ich heiße Sterlini Michelino.«
      Diesmal zeigte sich der Rektor interessiert, er nahm sogar die Zigarre aus dem Mund.
      »Bist du zufälligerweise der Sohn des Kameraden Giugiù Sterlini?«
    »Ja.«
      »Willst du deinem Vater sagen, daß er gegen fünf nach Mittag bei mir vorbeikommen möge?«
    Er drehte sich um und wollte gehen. Signor Panseca, der Lehrer, hatte gerade noch Zeit, zur Klasse zu sagen: »Aufstehen!«
    Doch der Rektor war schon draußen.
      »Setzen!« sagte der Herr Lehrer. »Und dann soll Maraventano zur Tafel kommen.«
      Alle drehten sich zur letzten Bank um. Alfio Maraventano hatte gerötete Augen vom Weinen. Als er zur Tafel ging, taumelte er wie ein Betrunkener.
    »Was ist los?« fragte der Lehrer. »Ist dir nicht gut?«
      »Gestern auf'n Abend sind Polizistenleut kommen, die ham mein Vatter verhaft.«
      »Hier wird keine Mundart gesprochen! Hier sprechen wir die Hochsprache! Verstanden? Kannst du bis drei zählen?«
      Alfio, dem die Tränen in den Augen quollen, war nicht in der Lage zu sprechen. Er machte zur Bestätigung ein Zeichen mit dem Kopf.
    »Dann zeichne mir drei Striche.«
      Alfio nahm die Kreide, sein Arm zitterte. Seine Hand blieb auf halber Höhe stehen, regungslos.
    »Also? Wird's bald?« fragte Panseca.
      Die Klassenkameraden sahen ganz weit oben, daß Alfios Arm aufhörte zu zittern, dann zeichnete seine Hand, inzwischen ganz fest und sicher, drei Striche, einen nach dem anderen, die so gerade

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