Der zerbrochene Kelch
Delvaux, während sie die letzten Meter zur Kastalischen Höhle hochgingen und schließlich vor dem dunklen Eingang stehen blieben.
»Los, Yannis, bring mir die Kylix«, forderte Delvaux ihn auf und richtete seinen Revolver auf Eliadis, der am Höhleneingang stand. Mit bleiernen Schritten ging Yannis zu einer versteckten Nische in der felsigen Wand und holte den Glaskasten mit der Kylix hervor. »Sehr gut«, triumphierte Delvaux. »Und jetzt bring sie mir.«
Doch da stellte sich Eliadis zwischen Yannis und Delvaux und forderte wortlos den gläsernen Kasten mit der halb fertigen Antikschale.
Yannis sah ihn einen Augenblick lang an und übergab ihm dann den Kasten mit der Kylix. Langsam drehte sich Eliadis um und überlegte, wie er an sein Wurfmesser kommen konnte, ohne dass Delvaux Zeit hätte, auf Yannis zu schießen. Er selbst konnte sich mit einem Hechtsprung vielleicht für einen Moment aus der Schusslinie bringen und nach dem Messer greifen, aber er würde damit seinen kleinen Bruder gefährden. Also nahm er den Glaskasten mit der Kylix in die rechte Hand und ging auf Simon zu, während er mit der linken Hand hinter seinem Rücken Yannis ein Zeichen gab, sich langsam in die Höhle zurückzuziehen und sich dort zu verstecken.
Er hielt Delvaux den Glaskasten entgegen, doch kurz bevor er ihn erreichte, ließ er ihn laut scheppernd zu Boden fallen.
Das Geräusch der knirschenden Keramik ließ Delvaux’ Blut gefrieren.
»Bist du völlig verrückt geworden? Dafür leg ich dich um!«
Delvaux zielte auf Eliadis, doch genau in dem Augenblick schrie Yannis und warf Delvaux einen Stein ins Gesicht. Dieser taumelte einen Schritt zurück und schoss. Eliadis zuckte getroffen zusammen und ließ sich zur Seite rollen. Sein linker Arm brannte höllisch, aber er griff sofort mit der rechten Hand nach seinem Messer am Bein und sprang hoch. Er hätte Delvaux mit voller Wucht getroffen, doch der konnte seinen Arm gerade noch abwehren. Beide überschlugen sich und rollten im Sand zwischen der Höhle und dem Abgrund der Kastalischen Schlucht hin und her, während Yannis aus dem Eingang der Höhle kam und den Kampf ängstlich beobachtete.
61
In ihrer Hütte saß Karen auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch und las in dem alten Sagenbuch. Schreckliche Bilder tanzten vor ihren Augen, und qualvolle Erinnerungen stiegen aus dem Tiefsten ihrer Seele hervor, als sie sich langsam dem Schluss der Legende um Agapios und der jungen Pythia näherte.
»Eines Tages reiste Agapios mit seinen Leuten nach Delphi, um Apollon Phoibus um Rat zu fragen. Die Perser hatten den Hellespont überschritten und drangen nach Thrakien ein, und er wusste keinen Rat, wie er Athen gegen diese Übermacht verteidigen sollte. Also machte er sich auf und folgte dem alten Pilgerweg nach Delphi, um Apollon unterhalb des alten Götterberges Parnassos um Rat zu fragen.«
Karens Herz begann zu rasen, als sie diese Zeilen las. Verwirrt warf sie einen Blick auf die Nationalstraße, die um den Phlemboukos-Felsen der Phädriaden herum zum Heiligtum hinaufführte.
Der alte Pilgerweg zwischen Athen und Delphi. Es war der Weg, auf dem er nach Delphi gekommen war.
»Agapios stand als Bevorzugter auf der Liste derjenigen, die im Tempel die Pythia befragen durften, und so wurden er und seine Leute durch die Schar der Pilger bis zum großen Hauptaltar der Chioter durchgelassen. Das Omen der Befragung war gut, denn die Opferziege zitterte am ganzen Körper, als man sie mit dem geweihten Wasser bespritzte.«
Karen wurde übel. Sie wollte nicht mehr weiterlesen. Sie wollte die Bilder und Erinnerungen nicht akzeptieren, doch sie schaffte es nicht, diese Bilder und Gefühle zu verdrängen.
Und so las sie weiter.
»…Doch bevor Agapios würdig war, den Rat des Apollon zu hören, musste er sich in der heiligen Kastalischen Quelle reinigen. Die Quelle lag außerhalb des Heiligen Bezirks unterhalb der Kastalischen Schlucht, die die Phädriaden teilte, und so machte er sich zusammen mit seinem buckligen Bruder Kletos und einigen Gesandten zur Quelle auf. Dike, eine junge Pythia, und einer der Hosioi begleiteten sie, denn auch die Pythia musste sich vor der Befragung des Apollon mit kastalischem Wasser reinigen. Doch als Agapios die liebliche Gestalt der jungen Delpherin erblickte, verliebte er sich in sie und verführte die Priesterin des Apollon, noch ehe sie die heilige Quelle erreichten, und auch der Hosioi konnte den Frevel nicht verhindern.
Zurück im Heiligen Bezirk, verlangte
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