Der zerbrochene Kelch
Theophora von ihrem Haus aus Karen den Berg hinaufrennen. Auch sie hatte den Schuss gehört und war zutiefst beunruhigt.
»Ja, o junge Pythia. Ihr seid wieder da. Nikos und sein buckliger Bruder Simon.«
Ein starker Erdstoß brachte das Haus zum Wanken, und die Fensterscheibe vor Theophora zersprang in tausend Stücke. Töpfe und Teller fielen von den Wänden, während draußen große Felsbrocken die Phädriaden herunterrollten und die Nationalstraße nach Athen blockierten. Zwei Wagen versuchten dem Steinregen auszuweichen, doch einer von ihnen wurde unter den Steinmassen begraben und der andere wich von der Straße ab und überschlug sich mehrfach ins Tal.
Theophora hielt sich an einer schiefen Tür fest und sah Karen und Mansfield nach, bis sie hinter den Felsen verschwunden waren.
»Der Engländer darf die Kylix nicht bekommen. Du musst Apollons Weihgabe zerstören. Nur dann wird er seine vernichtenden Erdstöße beenden. Wenn du aber versagst, werden wir alle sterben.«
63
Wie von Sinnen rannte Karen hinauf zur Kastalischen Höhle. Selbst die Erdstöße konnten sie nicht davon abhalten. Michael war schon weit hinter ihr, aber sie konnte nicht auf ihn warten. Sie durfte keine Zeit verlieren. Nikos brauchte sie, da war sie sich ganz sicher.
Als sie atemlos auf dem breiten Felsvorsprung vor der Kastalischen Höhle ankam, sah sie Delvaux und Eliadis miteinander kämpfen, während Yannis daneben stand und seinen Bruder anfeuerte und ab und zu einen Stein nach Delvaux warf. Nikos’ Wurfmesser lag rechts von ihm im Sand und nur wenige Meter von ihr entfernt ein Revolver.
Aus dem Augenwinkel sah Delvaux Karen und war für einen Moment abgelenkt, was Eliadis sofort für einen Fußtritt nutzte und ihn von sich wegstieß.
Delvaux taumelte einige Schritte rückwärts, doch dann fing er sich wieder und starrte auf den Revolver, der zwischen ihm und Karen im Sand lag. Er wusste, dass Karen ihn schneller erreichen würde. Schwer atmend warf er ihr einen finsteren Blick zu, doch als sie sich auf die Waffe stürzte, reagierte er blitzschnell und schnappte sich den Jungen. Delvaux packte Yannis am Kragen und hielt ihn am langen Arm über den Abgrund, während er Karen und Eliadis siegessicher ansah.
»Schieß, und der Junge ist tot!«, schrie er Karen zu, die mit ausgestrecktem Arm auf ihn angelegt hatte.
Karen war entsetzt. Sie war eine sichere Schützin, aber als sie sah, wie Yannis an Delvaux’ Arm über dem Abgrund zappelte, schwanden ihr beinahe die Sinne. Sie hielt sich mit der linken Hand den Kopf und taumelte einige Schritte zur Seite, während ihre Hand zu zittern begann und ihr Arm immer schwerer wurde. Schluchzend sank sie zu Boden, als grausame Erinnerungen in ihr hochkamen, schmerzhafte Bilder aus ihrem Innersten, die ihr das Herz zerreißen wollten.
Sie hatte diese schreckliche Szene schon mal erlebt. Vor langer, langer Zeit. Nicht hier in Delphi, sondern in den Bergen östlich von Athen. Immer deutlicher sah sie vor ihrem inneren Auge ein seltsames Tribunal, das sie, ihren Mann und ihren Sohn gefesselt die Felsen hinaufführte. Der Anführer war ein buckliger hässlicher Mann. Er nahm ihren Sohn, hielt ihn wie Yannis über die Felskante, während er mit einer giftigen Rede die Menschen um sie herum mit seinen Lügen beeindruckte.
Karens Gefühle überwältigten sie. Es war, als ob eine starke unsichtbare Energie zwischen ihr und Nikos bestehen würde, die schon seit Ewigkeiten existierte und jetzt in dieser tödlichen Situation ihr Innerstes erschütterte. Aber dann war da noch etwas anderes, das sie fühlte. Eine unglaublich starke innere Macht gab ihr Kraft und ließ sie wieder auf die Beine kommen.
Erneut legte sie auf Delvaux an, während sie sich mit der linken Hand die Tränen wegwischte.
»Gib ihn mir!«, schrie sie ihn an. »Gib ihn mir zurück! Tu es nicht noch einmal!«
Delvaux sah sie irritiert an. Was meinte sie damit?
»Ich werde ihn fallen lassen, wenn du mir nicht die Waffe gibst.« Er schob Yannis noch einige Zentimeter weiter nach vorn.
»Aber er hat dir nichts getan!«
»Nichts getan? Diese kleine Ratte hat meine Kylix gestohlen! Er wollte mich ruinieren! Allein dafür sollte ich ihn schon von der Klippe stoßen!«
»Nein, tu es nicht! Du bekommst die Waffe!«
Aus dem Augenwinkel sah Delvaux, wie Eliadis versuchte, in die Reichweite seines Wurfmessers zu kommen, das nur wenige Meter von ihm entfernt neben einem kleinen Felsen lag. »Das würde ich an deiner Stelle nicht
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