Der zerbrochene Kelch
lange her, dass sein großer Bruder ihn geohrfeigt hatte. Normalerweise hatte er ihn immer vor anderen beschützt und die anderen geschlagen, wenn sie Yannis geärgert hatten. Tränen stiegen ihm in die Augen, die Eliadis’ Wut verrauchen ließen, sodass er den Griff um Yannis’ Arm ein wenig lockerte.
»Diese Kylix ist wirklich sehr wichtig für mich«, sagte er eindringlich. »Du musst mich zu ihr führen.«
Yannis schluchzte. »Ich habe sie in die Höhle oberhalb der Kastalischen Schlucht gebracht.«
»In deine Lieblingshöhle?«
»Ja. Ich habe sie weiter hinten in einer Nische versteckt. Niemand wird sie dort finden, nur ich.«
Eliadis strich seinem kleinen Bruder über die kurzen Haare. »Gut, wir gehen nachher zur Höhle, und du zeigst mir die Nische. Einverstanden?«
Yannis nickte. »Warum holen wir sie nicht sofort?«
»Weil uns vielleicht jemand beobachtet.«
»Der Belgier oder der Professor? Kommen wir ins Gefängnis, wenn sie uns erwischen?«
Eliadis lächelte ihm jetzt aufmunternd zu. »Du nicht, aber vielleicht ich. Also rede mit niemandem darüber, verstanden? Wir treffen uns um vierzehn Uhr an der Weggabelung unterhalb der Höhle. Und achte darauf, dass dir niemand folgt.«
»Ist gut.«
Yannis rannte sofort los und wollte die Hütte verlassen, als er in der Tür Delvaux direkt in die Arme lief.
»Halt, mein Kleiner, nicht so schnell. Ich glaube, wir haben da noch etwas Wichtiges zu besprechen«, sagte er, zog Yannis in die Hütte zurück und schloss die Tür hinter sich. »Wo ist die Kylix?«, fragte er und hielt Yannis einen Revolver an die Schläfe, während er mit ihm langsam in die Mitte des Wohnzimmers ging. Der Junge war wie gelähmt.
Eliadis wich einige Schritte zurück. »Lass Yannis aus dem Spiel, Simon. Das geht nur dich und mich etwas an.«
»Das dachte ich eigentlich auch, aber anscheinend hast du nicht alles im Griff. Dein kleiner Bruder hat dich ausgetrickst, oder? Er hat dir die Kylix vor der Nase weggeschnappt. Wie tragisch – der Dieb wurde bestohlen. Aber ehrlich gesagt ist mir das ziemlich egal, denn mir geht es nur um die Kylix. Wenn ihr sie mir gebt, wird euch nichts passieren.«
Eliadis glaubte ihm kein Wort. »Dein Revolver hat keinen Schalldämpfer. Wenn du Yannis oder mich erschießt, bist du erledigt.«
Doch Delvaux grinste boshaft, den Lauf des Revolvers immer noch auf Yannis’ rechte Schläfe gerichtet. »Glaub mir, Nikos«, sagte er gefährlich ruhig. »Ich muss die Kylix morgen in Athen abliefern. Und wenn ich das nicht kann, bin ich sowieso erledigt. Also, wenn ich jetzt schieße, ist mir völlig egal, was dann passiert. Entweder gebt ihr mir, was ich haben will, oder wir gehen alle bei dieser Aktion drauf.«
Eliadis spürte, dass Delvaux es ernst meinte, und gab sich geschlagen. Vielleicht würde er ihn auf dem Weg zur Höhle überwältigen können? Das war im Augenblick seine einzige Hoffnung, auch wenn sie fast aussichtslos erschien.
»Also gut, wir führen dich hin.«
Delvaux nickte zufrieden. »Ich wusste, dass ihr vernünftig seid.«
59
Währenddessen saß Karen nach ihrem Einkauf im Dorf wieder in ihrer Hütte und tippte einige Notizen und Stichpunkte der vergangenen Tage in ihr neues Laptop, doch aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht auf den Text konzentrieren. Immer wieder merkte sie, wie ihre Finger über der Tastatur verharrten und wie sie den Text auf dem Bildschirm anstarrte, während sie mit ihren Gedanken bei Nikos und Simon war. Sie wusste nicht, warum, aber immer wenn sie sich an die Einzelheiten von Simons Führung durch den Heiligen Bezirk zu erinnern versuchte, schweiften ihre Gedanken automatisch zu Nikos und seinen Erzählungen über die delphischen Legenden und Orakelsprüche ab.
Über ihren rechten Handrücken lief eine Gänsehaut, als sie sich daran erinnerte, wie sie Nikos das Wasser der Kastalia-Quelle gereicht hatte. Es war nur eine spontane Geste gewesen, aber sie war ihr so vertraut, als ob sie das schon mal getan hätte. Karen strich sanft über den Handrücken.
Nikos … seine Hände … die Berührung seiner Lippen, als er das heilige Wasser aus ihrer Hand trank …
Sie hatte diese Berührung schon mal erlebt! Früher …
Karen schoss von ihrem Stuhl hoch und lief unruhig im Zimmer hin und her. Nein!, schrie sie in Gedanken und versuchte sich zu beruhigen. Nicht schon wieder … nicht noch einmal! Sie wollte das nicht. Doch sie wusste auch, dass sie keine Wahl hatte. Es war kein Zufall gewesen, dass sie
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