Der zerbrochene Kelch
eine ältere Pythia, dass er und seine Leute sofort das Heiligtum verließen, da sie den Ort mit ihrer Unreinheit beschmutzt hatten. Und Dike könne auch nie wieder Pythia des Apollon sein.
Agapios bat trotzdem demütig, dass man seine Weihgeschenke annehme, und hoffte, dass weitere hundert Opfertiere den Gott Apollon wieder gütig stimmen würden. Die Pythia nahm die Opfergaben an, aber Apollon verlangte später, dass man die Weihgaben und die Kelche am Brunnenbecken oberhalb des Tempels zerschmettere, damit nie wieder eine menschliche Seele an ihnen Vergnügen fände. Andernfalls würde sein Zorn verheerend sein, und er würde ihnen Erdbeben senden, die alles vernichten würden.
Doch diesen Spruch erhielt nur die Pythia. Sie handelte entsprechend und zerstörte die Weihgaben und die Kelche, indem sie sie dem Apollon in einem heiligen Ritus opferte und sie im Brunnenbecken zerbrach.
Agapios hingegen musste Delphi ohne den weisen Rat Apollons verlassen. Er machte Dike zu seiner Frau, aber ihre Liebe hatte nur wenige Jahre, denn als die Perser vor den Toren Athens standen, wurden sie beide durch den buckligen Bruder an die Feinde verraten. Die Perser töteten Agapios und Dike und deren Sohn, indem sie sie in den Bergen Athens die Felsen hinunterstießen.«
Die Seiten glitten Karen durch die Hand, als sie den Kopf hob und fassungslos durch das Fenster zur alten Ruine des Apollon-Tempels starrte.
Das konnte nicht sein. Das konnte nicht sein! Sie wollte das alles nicht!
Das Buch schlug von selbst zu und verschlang das Papyrus-Lesezeichen mit der Maat, ehe es polternd neben dem Stuhl auf die Holzdielen fiel. Mit wackligen Beinen stand Karen auf und taumelte zum Fenster.
Die Kylix … die Erdbeben … Auf einmal wusste sie, warum sie sich so sehr zu Nikos hingezogen gefühlt hatte.
Und was war mit Simon?
»O mein Gott!«
Im selben Moment kam Mansfield herein, der sie schwankend durchs Zimmer gehen sah. Ihr Gesicht war aschfahl, und es schien, als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig werden. Er eilte zu ihr und wollte sie auffangen, aber sie hielt ihm abwehrend eine Hand entgegen.
»Nicht.«
Sie fasste sich an den Kopf. Ihr war schwindlig. Widersprüchliche Gefühle durchfluteten sie. Gefühle, die sie schon seit langem spürte, aber immer unterdrückt hatte.
Sie rannte an Mansfield vorbei nach draußen, die Holzveranda und die Stufen mit wenigen Schritten nehmend. Atemlos blieb sie vor ihrer Hütte stehen, als sie Prof. Hillairet erkannte, der gerade den Weg vom Heiligen Bezirk herunterkam.
»Wo ist Nikos!«, schrie sie ihm entgegen.
Hillairet zeigte irritiert mit der Hand auf die Phädriaden. »Ich glaube, er, Simon und Yannis sind zum Stadion hochgegangen. Jedenfalls habe ich sie zusammen den Weg hinaufgehen sehen.«
Im selben Moment hallte ein Schuss durch das Tal. Sie starrten sich erschrocken an. Dann fuhr Karen herum und sah auf den Weg, der in die Felsen hinaufführte.
Mansfield stand hinter ihr auf den Holzstufen, als er sah, wie sie losrannte. Da sie an ihrer Hütte vorbeimusste, war er mit ein paar Schritten bei ihr und packte sie am Arm.
»Was geht hier vor? Was wird hier gespielt?«
»Lass mich los! O mein Gott, ich bin so eine Närrin gewesen! Ich muss zu Nikos!«
»Nikos? Warum, was ist mit ihm?«
Tränen standen ihr in den Augen, als sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Wir … er und ich … wir waren schon mal zusammen! Vor langer Zeit, als diese Ruinen noch keine Ruinen waren.«
»Was?« Mansfield verschlug es den Atem, als er allmählich verstand, was sie andeutete. »Ihr wart schon mal zusammen, so wie du und ich?«
Sie nickte. »Wir müssen sie einholen!«
»Wen meinst du?«
»Simon und Nikos. Simon wird ihn töten!«
»Warum sollte er? Nikos hat ihm doch nichts getan.« Mansfield gab sie frei und versuchte mit Karen Schritt zu halten, doch mit seinem verletzten Bein war er eindeutig langsamer.
»Ich spüre es einfach. Es geht um die Kylix. Simon darf sie nicht bekommen. Wir müssen sie zerstören, sonst wird ihre Macht Delphi und Athen vernichten.«
»Kylix? Was für eine Kylix? Verdammt noch mal, was geht hier vor?«
Genau in dem Augenblick kam ein gewaltiger Erdstoß, der Mansfield zu Boden gehen ließ, während Karen taumelte und sich dann an einer Steinmauer abfangen konnte. Sofort rannte sie den Weg zur Kastalischen Höhle hoch.
»Karen, warte! Es ist zu gefährlich!«
Doch Mansfields Worte konnten sie nicht aufhalten.
62
Über ihnen sah
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