Der zerbrochene Kelch
trotzdem war sie neugierig und hatte Michael nach der jungen Frau ausgefragt. Er schien auf die Fotos empfindlich zu reagieren, und als er sagte, dass es sich um Alicia, Toms Schwester, handle, konnte Karen verstehen, warum.
»Sie ist immer noch in New York, und du siehst sie öfter, nicht wahr?«, hatte sie gefragt, und Michael hatte genickt.
»Sie ist manchmal bei Tom, wenn ich bei ihm vorbeischaue. Aber es ist zwischen uns vorbei, Darling. Also keine Angst und bitte keine Eifersüchteleien, denn du wirst sie auch öfter zu Gesicht bekommen, spätestens an Toms Geburtstag.«
Er hatte sie daraufhin liebevoll geküsst, als könnte er damit alle Bedenken verscheuchen, doch in Karens Hinterkopf hatten trotzdem einige Alarmglocken geläutet. Allerdings nur, bis sie Alicia kennenlernte und sie sich ungewöhnlich schnell gut mit ihr verstand. Sie hatten sogar einige Dinge in New York zusammen unternommen, doch stets ohne Michael, der bei diesen Gelegenheiten plötzlich immer wichtige Büroarbeit zu erledigen oder einen Außeneinsatz hatte.
Alicia hatte es fast geschafft, dass Karen ihre Freundin wurde, aber es blieb doch immer ein gemeinsamer Punkt, der sie gleichzeitig trennte – Michael.
Alicia beteuerte zwar, dass sie sich vor zwei Jahren getrennt hätten, aber Karen merkte an ihrem unsicheren Blick, dass in ihrem Inneren immer noch ein alter Schmerz brannte.
»Entschuldige, wenn ich das frage, aber warum habt ihr euch eigentlich getrennt? Hatte sich einer von euch neu verliebt?«
Alicia hatte den Blick gesenkt. »Nein. Ich habe es beendet, ich konnte nicht mehr.«
»Was ist passiert?«
»Es lag nicht an einer anderen Frau, wenn du das meinst. Es lag an seinem Job. Es war nach einem Einsatz. Michael und Tom waren beide angeschossen worden und lagen im selben Krankenhaus. Als ich sie besuchte, wurde mir klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Es war schon schlimm genug, Angst um den Bruder zu haben, aber wenn der Ehemann auch noch diesen gefährlichen Beruf gewählt hatte … nein. Das ging nicht. Das konnte ich nicht ertragen. Ich redete mit Michael über das Problem, aber du weißt, wie wichtig ihm sein Job ist. Er konnte ihn nicht aufgeben.«
»Also hat er dich gehen lassen?«
Alicia hatte genickt. »An seinem Beruf sind schon viele Beziehungen gescheitert. Ich hoffe, du hast mehr Glück mit ihm.«
Daraufhin hatte Karen schnell einen halben Becher Latte Macchiato getrunken, um den riesigen Kloß in ihrem Hals hinunterzuspülen. Danach ging es ihr ein bisschen besser, und sie redeten über weniger verfängliche Themen.
Natürlich kannte sie auch diese Angst um Michael und konnte Alicias Bedenken gut nachempfinden. Auch sie war jedes Mal tausend Tode gestorben, wenn er morgens zu seiner Arbeit fuhr. Aber irgendwann hatte sie gemerkt, dass er auch jeden Abend wieder zurückkam und ihm nichts geschehen war. Bis auf zweimal. Einmal war er verprügelt worden und mit einem blauen Auge und aufgesprungenen Lippen nach Hause gekommen. Und das andere Mal hatte man ihm den linken Arm gebrochen und er musste zwei Wochen daheim bleiben. Zwei Wochen, in denen sie ihn verwöhnen konnte und dankbar war, dass er nicht zur Arbeit musste, doch Michael wurden diese Tage des Nichtstuns manchmal zu lang. Dann setzte er sich an seinen Computer und rief von zu Hause aus seine beruflichen E-Mails ab und führte Telefonate mit Tom.
So merkte Karen, noch lange bevor sie mit Alicia darüber redete, dass Michaels Job sein Leben dominierte, und sie war froh, dass er im Gegenzug Verständnis für ihr Schreiben zeigte und sie ohne große Probleme nach Griechenland reisen ließ.
Gedankenverloren ging sie ins Schlafzimmer und legte den Trolley aufs Bett. Als Erstes packte sie ein Foto von Michael aus, das sie auf einen Nachttisch stellte, und danach räumte sie die restlichen Sachen in den alten Kiefernwandschrank neben der Tür. Für eine Kommode hatte der Platz in dem kleinen Raum anscheinend nicht mehr ausgereicht, aber sie bekam all ihre Kleidung in dem Wandschrank unter.
War es schon merkwürdig gewesen, vor ein paar Tagen in ihre frühere Wohnung in Hamburg zurückzukehren, so war diese Camp-Hütte das reinste Pfadfinderabenteuer. Aber es machte ihr Spaß, mal wieder aus den alten Gewohnheiten auszubrechen und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Sie wusste, dass Julius’ Aufträge immer etwas ungewöhnlich waren, und freute sich über die Abwechslung, die sie brachten.
New York war eine interessante Stadt, und Karen
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