Der zerbrochene Kelch
hatte die Neujahrsfeier Ende Januar in Chinatown und die St.-Patrick’s-Day-Parade im März zum ersten Mal live sehr genossen. Auch die vielen Museen und die Abendessen mit Michael im Caffe Reggio in Greenwich Village oder im Café des Artistes in der Upper West Side mit seinen romantischen Nymphenfresken an den Wänden hatten ihr das letzte halbe Jahr herrlich versüßt. Aber gleichzeitig hatten die gemalten Nymphen ihr wieder bewusst gemacht, dass das Fresko nicht sehr alt und nur eine Dekoration eines Cafés war. Sie konnten ihre Sehnsucht nach echten Fresken und Statuen in Rom, Griechenland oder Ägypten nicht ersetzen. Sie brauchte ab und zu die alten Kontinente und deren jahrtausendealte Geschichte. Dieses Faible zog sie immer wieder zu Julius und nach Hamburg zurück. Sie konnte nicht anders. Und Michael hatte das verstanden.
Karen schloss den Wandschrank und legte den leeren Trolley unters Bett. Dann ging sie in die Küche und inspizierte den Kühlschrank und die Schränke. Besteck, Gläser und Geschirr waren reichlich vorhanden, aber im Kühlschrank standen nur noch einige Mineralwasserflaschen.
Delvaux hatte auf der Fahrt schon zugegeben, dass sie vergessen hatten, den Kühlschrank wieder aufzufüllen, und gesagt, dass sie selbst ins Dorf fahren und einkaufen müsse. Aber das war Karen nur recht. Dann konnte sie wenigstens das kaufen, was ihr gefiel und worauf sie Appetit hatte.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und stellte den Laptop neben den Schreibtisch. Zum Glück verfügte diese Hütte über Telefon- und Internetanschluss, sodass sie problemlos arbeiten und E-Mails verschicken konnte.
Karen öffnete das Fenster vor dem Schreibtisch und genoss den Blick auf die Ruinen und die steilen Berghänge, die das Pleistos-Tal umgaben und denen dieser Ort seinen alten Namen verdankte – das felsige Pytho .
So hatte Homer ihn genannt, doch nach Apollons Sieg über die Pythonschlange wurde er zum Orakel von Delphi. Ein Ort, der fast zweitausend Jahre lang verschollen war und dessen Geist nur in alten Büchern weiterschlummerte, um jetzt wieder ans Tageslicht zu gelangen. Denn jetzt war die Zeit gekommen.
6
Eigentlich wollte Karen, nachdem sie den Koffer ausgepackt hatte, ins Dorf, doch der Blick auf die Ruinen war so verlockend, dass sie sich entschied, erst einen kurzen Spaziergang zur Tempelruine zu machen.
Zwischen dem Camp und dem alten Heiligtum gab es einen schmalen Sandweg, der Karen durch einzeln stehende Kiefern und Zypressen hindurch zum Heiligen Bezirk und zu den Säulen des Tempeleingangs führte. Sie ging die steinerne Rampe zum Tempel hinauf und berührte sanft eine der großen Eingangssäulen mit ihrer Hand.
Angekommen.
Delphi hatte sie schon immer fasziniert, und jetzt war sie tatsächlich hier. Vor ihr lagen die steinernen Reste des großen Apollon-Tempels, und links führte die Heilige Straße hinab zur neuen Nationalstraße, auf der sie von Athen angereist war wie die Pilger vor zweitausend Jahren. Langsam schlenderte Karen über die rauen Steinplatten und setzte sich an der Südwestecke des Tempels auf den grauen Kalkstein.
Gedankenverloren strich sie mit der Hand über das Fundament, auf dem ebenfalls eine große Säule gestanden hatte. Sie spürte diese Säule geradezu und hätte sich am liebsten gegen sie gelehnt, aber von dem alten Stein war nichts mehr vorhanden. Vielleicht ruhten von ihr noch einige Trommelstücke zwischen den anderen Trümmern, die unterhalb des Tempels auf einem Terrassenvorsprung verstreut lagen.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch und wandte sich um. Sie sah, wie Nikos Eliadis ihr entgegenhumpelte und die Mauerreste des Tempels erklomm, um zu ihr zu gelangen.
»Genießen Sie die schöne Aussicht, Madame Alexander? Dieser Blick über den Heiligen Bezirk ins Tal und auf die Berge gegenüber ist fantastisch, nicht wahr?«
Karen stand auf und legte gegen das grelle Sonnenlicht die Hand vor die Augen. Eliadis war wie Delvaux sechs-oder siebenundzwanzig Jahre alt und hatte ein breites, kurzes Gesicht mit lebendigen dunklen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Er war nur wenige Zentimeter größer als sie und hatte schmächtige Schultern, während sein fester Händedruck sie gleich überraschen sollte. »Ja, es ist herrlich hier. Aber bitte sagen Sie Karen zu mir. Simon tut es auch.«
»Simon …« Eliadis’ Gesicht verfinsterte sich um eine Nuance, als er ihr die Hand reichte. »Er hätte mich heute nach Athen mitnehmen sollen, dieser Schuft.
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