Der zerbrochene Kelch
drehte sich um und deutete auf eine freie Fläche im Inneren des Tempels, auf der zurzeit frisches Gras wuchs. »Hier soll sich das Adyton befunden haben. Es war eine rechteckige Vertiefung, die etwa einen Meter tiefer lag als das übrige Tempelniveau. Ein symbolischer Gang führte einige Treppenstufen hinunter, sodass die Pilger das Gefühl hatten, von ihrer Welt in eine andere, mystische, von Apollon beseelte Welt hinabzusteigen.« Er zeigte auf die stehenden Säulen des Osteingangs. »Von dort kamen die Fragesteller einzeln oder als kleine Gruppe in den Prodomos, in dem auf beiden Seiten die großen Maximen der Sieben Weisen eingraviert waren: ›Nichts im Über maß …‹, ›Du bist …‹«
»›… Erkenne dich selbst‹«, ergänzte Karen mit leiser Stimme, während Delvaux über ihre genannte Maxime schmunzeln musste.
»Ja, › gnôthi seautón‹ . ›Erkenne dich selbst ‹ . Der berühmteste Spruch Delphis. Sind Sie deswegen hier, Karen? Wollen Sie herausfinden, wer Sie sind und wo Sie herkommen?«
»Will das nicht jeder?«
Delvaux zuckte mit den Schultern. »Ich nicht. Ich bin froh, hier zu sein und mit Ihnen diese Ruinen zu genießen. Metaphysik ist weiß Gott nicht mein Studiengebiet. Da befasse ich mich lieber mit Scherben und Freskendarstellungen.«
»Aber auf den Fresken wurden doch immer Götter und Themen aus der griechischen Mythologie dargestellt. Da mussten Sie sich doch zwangsläufig mit Metaphysik befassen.«
»Ja«, gab Delvaux zu, »aber im Grunde genommen ist es mir egal, woran die alten Griechen glaubten. Ich kenne die griechische Mythologie in- und auswendig, um Tempelgiebel zu rekonstruieren, und es hilft mir beim Puzzeln, wenn ich das Gesamtbild eines Tempels herausfin-den will, doch mehr nicht.«
Karen seufzte innerlich, als sie diese wissenschaftlichen, nüchternen Worte hörte, aber vielleicht half Simon diese Einstellung, um schneller arbeiten zu können. Wenn er sich andauernd in philosophische Betrachtungsweisen verlieren würde, käme er mit seinen Forschungen wahrscheinlich nie voran.
Er deutete auf einen Punkt, an dem die Bodenplatten des Vorraums endeten. »Dort war eine mächtige Holztür aus Zypressenholz mit edlen Elfenbeineinlegearbeiten, durch die die Besucher ins Megaron eintraten, umgeben von beeindruckenden Weihgaben wie dem silbernen Kraterkrug des Krösus, goldenen Dreifüßen, wertvollen Vasen, Leiern und Opferschalen. In der Mitte des Tempels stand ein kleiner Altar mit dem ewigen Feuer, das niemals ausgehen durfte und das von keuschen Dienerinnen ausschließlich mit reinem Holz der Parnass-Tanne und dem heiligen delphischen Lorbeer erhalten werden durfte.«
Karen bemerkte, wie sich Delvaux’ Lippen bei dem Gedanken an hübsche Tempeldienerinnen leicht kräuselten, während er weitersprach.
»Die Pilger gingen dann die Stufen ins Adyton hinunter und mussten in einem Holzverschlag Platz nehmen, der sie durch einen bodenlangen Vorhang von der Pythia trennte. Das Adyton war kein geschlossener Raum innerhalb des Tempels, sondern jeder, der das Megaron betrat, konnte am Ende der Halle den goldenen Dreifuß, die Apollon-Statue, den Lorbeerbaum und den Omphalos erkennen, durch dessen Öffnung das Pneuma nach oben stieg und die Pythia Apollons Gedanken erhielt.«
»Pneuma?«
»Herodot nannte es so. Der göttliche Atem, der der Pythia ihre Visionen einhauchte.«
Karen erinnerte sich vage an einige Fernsehsendungen, in denen über dieses Pneuma spekuliert wurde. »Sie meinen die berühmte Erdspalte, durch die betäubende Gase emporgestiegen sein sollen?«
Delvaux verzog das Gesicht. »Unsinn, alles Legendengefasel. Es gab hier keine physikalischen Ausströmungen. Wir haben bis heute keine Erdspalte gefunden, aus der so ein stimulierendes Erdgas ausströmen konnte, und auch die Geologen sagen, dass dies unmöglich gewesen ist. Um Delphi herum ist nur harter Felsen.«
»Aber es gibt doch Erdbeben. Vielleicht hat ein solches Erdbeben die damalige Erdspalte wieder geschlossen?«
»Daran haben wir natürlich auch schon gedacht«, entgegnete Delvaux. »Aber so einen nachträglich geschlossenen Riss würde man erkennen, und es ist keiner da. Nichts, das Plutarchs Bericht beweisen würde.«
Da fiel Karen noch eine Legende ein, von der sie in einer Zeitschrift gelesen hatte. »Und was ist mit dem Ziegenhirten, dessen Ziege angeblich an einen Erdspalt kam und dort völlig verrückt spielte und wild hin und her tanzte? Und was ist mit dem Bericht, dass der Hirte
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