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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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selbst in einen Rauschzustand kam, als er die Dämpfe des Spalts ein atmete?«
    Delvaux winkte ab. »Alles nur eine Legende. Es gibt hier im weiten Umkreis keine Erdspalten.«
    »Außer bei den Thermopylen. Dort treten heißes Wasser und Dämpfe aus dem Erdboden aus.«
    Delvaux schüttelte den Kopf. »Das ist kein Beweis für Delphi. Die Thermopylen sind dreißig Kilometer von hier entfernt. Nein, es haben wirklich schon viele Wissenschaftler den Tempel nach diesem Erdspalt untersucht, das dürfen Sie mir glauben, und bisher hat noch niemand etwas gefunden. Allerdings habe ich in den Unterlagen von Androuet eine Notiz gefunden, in der er von einem Raum unterhalb des Adytons berichtet. In diesem Raum hätte man ohne weiteres ein Feuer mit halluzinogenen Pflanzen halten und den Rauch nach oben durch den Omphalos ins Adyton leiten können. Durch das Einatmen dieser Dämpfe oder durch Selbstsuggestion könnte die Pythia dann während der Orakelbefragung in eine selbst-induzierte Trance gefallen sein und Visionen und Antworten bekommen haben. Aber das ist natürlich reine Spekulation.«
    Karen nickte, doch dann kam ihr ein neuer Gedanke. »Es heißt doch, dass sie durch das Kauen von Lorbeer in Trance gefallen sein soll.«
    Delvaux seufzte. »Ja, auch das wird kolportiert, ist aber völliger Blödsinn. Wir wissen heute, dass Lorbeer nicht halluzinogen wirkt. Er enthält Bitterstoffe und ätherische Öle, die verdauungsfördernd sind, aber ekstatisch wird man davon ganz sicher nicht.«
    Karen betrachtete einen Lorbeerstrauch, der unterhalb des Tempels wuchs, und musste an eins ihrer Kochbücher denken, in dem ein längerer Artikel über Lorbeer stand. »Lorbeer wirkt antibakteriell, nicht wahr?«
    Delvaux nickte. »Ja, er ist bakterizid. Er enthält Epoxide wie Cineol, die Bakterien abtöten. Erstaunlich, dass die alten Griechen ohne unsere medizinischen Geräte wussten, dass Lorbeer auf den Körper reinigend wirkt. Im Tempel wurde auch Lorbeer verbrannt, um den Ort zu reinigen, so wie man in den katholischen Kirchen heute noch Weihrauch verbrennt. Beides sind bakterizide Substanzen. Aber ich denke eher, dass Androuets Vermutung richtig ist und man während der Orakelbefragungen unter dem Adyton ein künstliches Feuer mit Lorbeer, Bilsenkraut und einigen giftigen Pilzen in Gang hielt, deren Rauch die Pythia dann einatmete und sie für ihre Visionen bereit machte.«
    Karen stimmte ihm insgeheim zu, musste dann jedoch wieder an Plutarch denken. »Aber Plutarch war doch selbst Priester im delphischen Tempel. Er hat doch genau beschrieben, wie die Befragungen stattfanden.«
    »Das stimmt, aber er lebte hundert Jahre nach Christus, also sechshundert Jahre nach dem Höhepunkt des Delphischen Orakels. Zu seiner Zeit war das Orakel nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Römer hatten das alte Griechenland und die Kultur zerstört und sie mit ihrer eigenen verschmolzen. Die Riten waren nicht mehr griechisch, der Omphalos, der heilige Stein Delphis, gestohlen und Delphi nicht mehr der Nabel der Welt.«
    Sie gingen entlang der talseitigen Längsmauer zu den sechs Säulen und dann die steinerne Rampe des Tempeleingangs hinunter zum ehemaligen Vorplatz der Anlage.
    »Interessieren Sie sich eigentlich speziell für ein bestimmtes Zeitalter der griechischen Kultur?«, fragte Delvaux, während sie auf die Überreste des großen Altars der Chioter zugingen. »Die Archaik, Klassik oder die hellenistische Zeit? An einem Vormittag kann ich Ihnen nämlich nicht alles zeigen. Dieses Heiligtum bestand immerhin tausend Jahre lang und hat mehrere Epochen erlebt.«
    Karen sah sich um, und ihr Blick fiel einige Meter unter ihr auf ein kleines Gebäude, das als einziges Schatzhaus im Heiligen Bezirk wiederaufgebaut worden war. »Ich denke, mich interessiert hauptsächlich die archaische Zeit zwischen 700 und 480 v. Chr.«
    Das gefiel Delvaux. »Sehr gut. Ich finde diese Zeit auch am interessantesten. Der große Hauptaltar der Chioter hier gehört zum Beispiel auch dazu. Hier wurden die Opfertiere, meistens Ziegen, mit kaltem Wasser bespritzt, und wenn sie zusammenzuckten, war es ein gutes Omen. Es bedeutete, dass Apollon anwesend und für die Befragung bereit war. Also, ich finde es ja eine merkwürdige Arbeitsauffassung, dass er für seine Leute nicht immer da war, aber er musste wohl auch noch seine anderen Orakelstätten bedienen«, erklärte Delvaux sarkastisch. »Ganz am Anfang durfte man Apollon nur einmal im Jahr befragen, aber da immer mehr

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