Der zerbrochene Kelch
Pilger nach Delphi kamen, wurden bald mehrere Pythien eingesetzt, die sich regelmäßig bei der Arbeit im Tempel abwechselten. Ist das nicht verrückt? Völlig normale und einfache Frauen aus Delphi, die auf einmal über Recht, Ordnung und politische Schiedssprüche für das gesamte Griechenland entschieden? Und das, obwohl die Frauen im alten Griechenland sonst so gut wie keine Rechte hatten.«
Karen zog den Riemen ihres Rucksacks zurecht, während sie weitergingen. »Aber durch sie sprach ja Apollon.«
Delvaux warf ihr einen zweifelnden Blick zu, oder hatte sie das wirklich ernst gemeint? »So glaubten zumindest die alten Griechen, sonst hätten sie wohl nicht auf die Pythia gehört. Doch ihre Sprüche scheinen wirklich gut gewesen zu sein, denn es wurden immer mehr Pilger, die nach Delphi kamen. Nur im Winter war das Orakel geschlossen, weil Apollon zu der Zeit angeblich im Norden bei den Hyperboreern war. Dionysos übernahm dann die Regentschaft in Delphi, und man feierte zu seinen und Pans Ehren Trinkgelage und Orgien in der Korykischen Grotte. Wollen Sie die Grotte eigentlich auch besuchen?«
»Ja, natürlich«, antwortete Karen sofort. »Ich muss zur Korykischen Grotte. Sie gehört zu Delphi wie die Akropolis zu Athen. Selbst Pausanias hat sie besucht.«
»Ach, dieser alte römische Geschichtenerzähler«, sagte Delvaux abfällig. »Wer weiß, ob seine Berichte immer auf Selbsterlebtem basieren? Ich glaube es jedenfalls nicht. Die heutigen Tagesbesucher lassen die Grotte meist links liegen und begnügen sich mit den Ruinen im Heiligen Bezirk. Sie besuchen nicht einmal die Kastalia-Quelle, sondern wandern gleich weiter zum Gymnasion und zur Marmaria, und nach zwei, drei Stunden Delphi-Kultur fahren sie mit ihren Bussen weiter nach Athen, Epidauros oder Olympia und vielleicht noch nach Sparta.«
Karen sah ihn herausfordernd an. »Aber ich bin keine Tagesbesucherin, Simon.«
Delvaux grinste. »Nein, zum Glück nicht. Wenn die Grotte in der Nähe wäre, würde ich sie Ihnen ohne Probleme zeigen, aber ich hasse diesen stundenlangen Fußmarsch den Berg hinauf. Vielleicht sollten Sie Nikos mal danach fragen. So wie ich ihn kenne, würde er Sie sicher gern hinführen.«
Karen hob eine Augenbraue. »Trotz seines Klumpfußes?«
»Er ist hart im Nehmen und würde sich Schmerzen niemals anmerken lassen. Er führt oft Touristen zur Höhle. Er ist den langen Fußmarsch gewöhnt.«
»Gut, dann werde ich ihn mal fragen, ob er mich mitnimmt.«
Sie gingen am Hauptaltar vorbei und bogen auf die Heilige Straße, den alten Steinweg des Tempelbezirks, ein, der sich serpentinenartig den Berg hinunterschlängelte. Delvaux zeigte auf einige leere Steinsockel und erzählte deren Geschichte, während Karen immer schweigsamer wurde und sich langsam ein trauriger Schimmer über ihre graugrünen Augen legte. Das blieb von Delvaux nicht unbemerkt, der plötzlich in seinen Ausführungen innehielt und sanft, aber nachhaltig Karens linken Arm ergriff.
»Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, aber … all die leeren Podeste«, erwiderte sie leise, als sie erneut an einem breiten Sockel vorbeigingen.
Delvaux wusste, was sie meinte, und merkte doch zu spät, dass seine nächsten Worte noch tiefer in ihrer alten Wunde bohren würden. »Tja, sie haben alles mitgenommen. Nur die leeren Podeste blieben zurück. Die wertvollen Statuen aus Delphi stehen heute alle in Rom oder in Istanbul.«
Karen hob zweifelnd den Kopf. »Istanbul?«
Delvaux machte ein zerknirschtes Gesicht. »Das, was Sulla und Nero übrig gelassen haben, hat Kaiser Konstantin dreihundert Jahre später nach Konstantinopel verfrachtet. Die Siegessäule von Plataia zum Beispiel steht heute im Hippodrom in Istanbul.«
Karen war entsetzt. »Die delphische Siegessäule steht immer noch in der Türkei?«
Delvaux nickte, während Karen auf das leere Podest neben dem alten Steinweg zeigte und unwillkürlich an ihre Reise nach Ägypten und den leeren Obeliskensockel vor dem Luxor-Tempel denken musste. »Aber … die Siegessäule gehört hierher! Nach Griechenland! Nach Delphi!«
»Sagen Sie das nicht mir, sondern der türkischen Regierung. Außerdem stehen in England, Frankreich, Deutschland, Italien und Russland auch viele Artefakte in den Museen, die eigentlich nicht dorthin gehören.«
Da musste Karen ihm leider Recht geben, doch ihre dunklen Gedanken über die verschleppten Altertümer waren sofort wieder verschwunden, als sie einige Schritte
Weitere Kostenlose Bücher