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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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betrachtete, nicht gefiel. Er ging voraus und erklomm die Stufen des Fundaments und die hohen Mauerreste, die die ursprüngliche Halle des Tempels erahnen ließen.
    Karen bekam eine Gänsehaut, als sie ihn so durch die alten Mauern gehen sah, die sich vor ihren Augen auftaten. Für sie war es, als ob dieser Tempel noch stehen würde, und es war erschreckend, wie schutzlos das Innere des Tempels für jeden Touristen heute frei zu erreichen war.
    Delvaux winkte ihr zu, als er sah, wie sie zögerte.
    »Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.«
    Er reichte ihr die Hand, und im nächsten Augenblick standen sie beide auf den verwitterten Steinen des inneren Cella-Raums.
    Delvaux zeigte auf die sechs Säulen, die an der Ostseite des Tempels wiederaufgebaut worden waren.
    »Sehen Sie die Säulen dort hinten? Sie gehören zum letzten delphischen Apollon-Tempel, doch der, der sie mehr interessieren wird, ist der Alkmaoniden-Tempel aus der archaischen Zeit, nicht wahr? Da sein Vorgänger 548 v. Chr. einer Brandkatastrophe zum Opfer fiel, bauten die Alkmaoniden ihn wieder auf, und das prachtvoller denn je. Von allen Seiten flossen Spendengelder, und sogar der ägyptische Pharao Amasis soll seinen Beitrag geleistet haben. Anstatt aus billigem Kalkstein wurde der Ostgiebel oberhalb des Tempeleingangs aus teurem Paros-Marmor angefertigt, der extra mit Schiffen von der Insel Paros nach Krissa gebracht wurde und dann mühsam mit Maultieren nach Delphi geschafft werden musste. Eine unglaubliche logistische Leistung für die damalige Zeit, finden Sie nicht?«
    Karen nickte, während sie nach Osten zu den weißen Säulen des letzten Delphi-Tempels blickte. Die Steine hatten ihr gestern Nachmittag bei ihrer ersten Besichtigung des Tempels nichts erzählen können, denn sie gehörten nicht zu dem Geheimnis, das sie tief in ihrem Inneren spürte und doch noch nicht genauer bestimmen konnte, da sie selbst nicht wusste, was dieser magische Ort für sie zu bedeuten hatte.
    Sie spürte, dass er eine Bedeutung hatte. Sie musste sich nur darauf einlassen.
    Delvaux’ Stimme drang wieder zu ihr durch. »… laut Euripides’ Beschreibung soll der Alkmaoniden-Tempel außergewöhnlich schön gewesen sein, aber es ist leider kaum noch etwas von ihm vorhanden. Immerhin konnten meine Vorgänger die Reste des Ostgiebels im Erdreich des Tempelbezirks wiederfinden, sodass man sie jetzt im Museum bewundern kann.«
    Diese Worte rissen Karen endgültig aus ihrer Trance.
    »Die Delpher haben die Steine der Tempelvorgänger einfach ins Fundament eingearbeitet?«
    Delvaux wunderte sich darüber nicht. »Für sie war es eben nur Schutt. Aber im Nachhinein dürfen wir froh darüber sein, denn man fand darunter auch Steine mit eingeritzten Handwerkerabrechnungen, sodass wir viele Angaben über Mengen, Preise und Namen der Handwerker bekommen haben oder wo diese herkamen. Dadurch wissen wir zum Beispiel, dass die meisten Arbeiten in Argos und Athen erledigt wurden, während Steine aus Korinth und Sikyon kamen und das Holz hauptsächlich aus Makedonien.«
    Karen blickte sich um und sah auf die dunklen Kiefern und Zypressen, die sich vereinzelt an den felsigen Berghang schmiegten. »Warum hat man kein hiesiges Kiefernholz genommen?«
    Delvaux folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf. »Weil es eine schlechte Qualität hatte. Es war zu brüchig.« Sie gingen einige Schritte weiter. »Der Wiederaufbau des Tempels hat wahrscheinlich über dreißig Jahre gedauert.«
    Auf Karens Stirn bildete sich eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. »So lange? Aber dann war ja mindestens eine Generation ohne delphischen Rat.«
    »Fürchterlich, nicht?« Delvaux’ Stimme klang sarkastisch. »Aber es gab ja im alten Griechenland noch viele andere Orakelstätten, auf die sie zurückgreifen konnten. Apollon wurde ja nicht nur hier verehrt, sondern auch auf seiner Heimatinsel Delos. Die Pilger mussten zu der Zeit eben nur einen längeren Weg in Kauf nehmen.« Er ging noch ein paar Schritte weiter. »Wollen Sie das Adyton sehen?«
    Karen zuckte bei diesem Wort zusammen. Er wollte ihr den heiligsten Raum des Tempels zeigen?
    »Der Raum, in dem die Pythia weissagte? Aber ich dachte, dass niemand genau wisse, wo er lag?«
    Delvaux grinste, da er sich ertappt fühlte. Er hatte sie mit einer einfachen Aussage beeindrucken wollen, aber sie wusste über den Tempel mehr, als er dachte.
    »Sie haben Recht. Gut, dann zeige ich Ihnen jetzt den Ort, wo man das Adyton vermutet. Zufrieden?« Er

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