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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Rinnsal sich langsam zum dunklen Wasser hinschlängelte.
    Sie hatte diesen Traum schon öfter gehabt, auch schon in New York. Er war immer wieder so schrecklich real und unheimlich, dass sie ihn Michael erzählte.
    Aber der hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ich kann es nicht ändern, Karen. Da draußen warten mehrere, die mich umbringen wollen, doch ich hab ja Tom, der auf mich aufpasst.«
    Ja, Tom. Michael hatte Recht, Tom war seine Lebensversicherung. Sein Freund würde alles für ihn tun. Er wäre auch bereit, sein eigenes Leben für ihn zu opfern, da war sich Karen sicher. Sie hatte das Gespräch dann auf sich beruhen lassen und den Traum vergessen, aber heute Nacht war er wieder da. So intensiv und schrecklich wie nie zuvor.
    Sie hatte im Traum ein so reales Gefühl gehabt, ihre Arme nach Michael auszustrecken und ihn berühren und warnen zu können, aber genau in dem Augenblick entfernte er sich von ihr und ließ sie alleine zurück. Noch nie hatte Karen sich so einsam gefühlt wie in diesem Traum, in dem Michael sie verließ und in der Dunkelheit verschwand. Es war ein schreckliches Gefühl, das selbst am nächsten Morgen noch wie ein bleierner Schleier über ihr lag.
    Nachdem sie aufgestanden war, hatte sie sofort nach dem Handy gegriffen und nachgeschaut, ob Michael ihr eine Nachricht geschickt hatte, doch es war wieder nichts angekommen. Das Display zeigte ihr nichts an. Er hatte ihr auch nicht auf die Mailbox gesprochen. Also drückte sie die Kurzwahltaste und rief bei ihm an, doch er war immer noch nicht zu erreichen. Dafür kam einige Minuten später eine SMS.
    »Habe keine Zeit. Hoffe, du bist gut angekommen. Ich liebe dich, Mike.«
    Karen blickte erstaunt auf das Display.
    Mike?
    Wenn sie zusammen waren, nannte sie ihn eigentlich immer Michael. Mike wurde er nur von seinen Kollegen gerufen. Und wieso hatte er keine Zeit? In New York war es doch noch Nacht, also warum lag er nicht im Bett? Oder hatte er gerade Nachtdienst? Aber selbst dann hätte er sie doch irgendwann mal zurückrufen können.
    Genervt legte sie das Handy auf den kleinen Nachttisch zurück und strich sich eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht.
    Was war nur mit Michael los? Er benahm sich irgendwie anders als sonst.

13
    Delvaux nahm Karens gereizte Stimmung an diesem Morgen gelassen hin.
    »Schlechte Träume hat jeder mal. Deswegen sollte man sich nicht diesen wunderschönen Tag verderben lassen, Karen. Was meinen Sie, sollen wir so wie die Pilger damals unten am Eingang zum Heiligen Bezirk beginnen und langsam zum Tempel hinaufgehen, oder fangen wir oben an?«
    Karen versuchte ihren nächtlichen Albtraum zu vergessen und blickte zu den alten Ruinen hinüber. »Nein, bitte nicht wie die Pilger damals. Ich möchte mit Ihnen den Weg lieber zurückgehen.«
    Delvaux nickte. »Auch gut, dann lassen Sie uns am besten mit dem Amphitheater oben hinter dem Tempel beginnen, einverstanden?«
    »Ja, gern.«
    Sie gingen über einen schmalen Fußweg durch einen kleinen schattigen Kiefernwald, vorbei an hunderten von behauenen Steinquadern, die wie nach einem großen Titanenkampf überall verstreut lagen, hinauf zum Amphitheater.
    Delvaux zeigte auf die Sitzreihen. »Ein schönes Theater, nicht wahr? Es ist zwar nicht so groß wie das von Epidauros auf dem Peloponnes, aber fünftausend Menschen hatten hier immerhin auch Platz«, sagte er, während sie vor einer großen Steinstele mit griechischen Schriftzeichen stehen geblieben waren.
    Karen blickte irritiert auf die weißen Sitzplätze des Theaters, die sich in einem großen Halbrund vor ihr auftaten. Ein Ort, an dem Pindar seine Oden darbrachte und die Sieger ihre Lorbeerkränze bekamen. Ein Ort, der sie irgendwie innerlich berührte, aber sie auch äußerst irritierte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte herauszufinden, was sie störte, doch es gelang ihr nicht. »Es … es ist irgendwie anders …«
    »Als Sie es sich vorgestellt hatten? Ja, es wurde im Laufe der Jahrhunderte verändert. So, wie es jetzt aussieht, wurde es erst im 3. Jahrhundert ausgebaut. Davor bestand es nur aus hölzernen Sitzreihen, aber die sind natürlich nicht mehr erhalten.«
    Karen warf einen Blick auf die weißen Stufen, zwischen denen sich Gras und Unkraut breitmachte, das aber durch die Sonne wieder verbrennen und austrocknen würde. Ein ewiges Spiel zwischen Leben und Tod.
    »Lassen Sie uns zum Apollon-Tempel gehen«, drängte Delvaux, dem Karens melancholischer Blick, mit dem sie das Theater

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