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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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meisten liebte. Und da Michael nicht bereit war, seinen Job aufzugeben, hatte sie die Konsequenzen gezogen und war gegangen.
    Michael hatte ihre Entscheidung verstanden und sich danach in die Arbeit gestürzt. Vor allem zu Nachtschichten hatte er sich einteilen lassen und sich lange Zeit nicht mehr in Toms Wohnung blicken lassen. Er wollte ihr nicht begegnen, und sie war ihm dafür dankbar, denn es wäre unerträglich gewesen, ihn dort immer wieder zu treffen. Michael hatte sich zurückgezogen und in den letzten zwei Jahren mehrere Freundinnen gehabt, doch soweit Alicia es von Tom gehört hatte, hielten diese Beziehungen nicht lange. Hatte er sie etwa noch immer geliebt? Hatte er keine andere finden können, die ihm genauso gut gefiel wie sie? Aber was nützte das, solange er nicht bereit war, seinen Job aufzugeben?
    Alicia seufzte.
    Dann kam Karen. Er hatte sie vor einem halben Jahr kennengelernt und schien wie verwandelt zu sein. Der Aufenthalt in Paris und Ägypten schien ihn verändert zu haben. Er war ernster geworden, und in seinen Augen war auf einmal so eine dunkle Tiefe zu sehen, wie er sie vorher nicht gehabt hatte. Was hatte Karen mit ihm gemacht, dass er sich so verändert hatte? Wie hatte sie ihn verzaubert? Denn irgendwie schien es ihr wirklich wie ein Zauber zu sein, den Karen auf ihn ausübte. Sein Lächeln war anders gewesen, und wenn sie die beiden zusammen sah, war es, als ob sie sich schon seit Jahrhunderten kennen würden. Da waren vertraute Gesten, die sie in all den Monaten ihrer Beziehung nie an ihm gesehen hatte. Er strich Karen anders durchs Haar, als er es bei ihr oder den anderen Freundinnen getan hatte. Zärtlicher … sanfter.
    Und wenn sie beim Shoppen oder beim Spazierengehen im Central Park Händchen hielten, hatten sie ein inniges Lächeln in den Augen, für das Alicia Gott wer weiß was tun würde. Er nannte Karen manchmal »mein kleiner Professor«, was Alicia nie verstanden hatte, denn soweit sie wusste, hatte Karen nur den Magister, aber als sie ihn mal darauf angesprochen hatte, hatte er bloß geschmunzelt und war ihr eine Antwort schuldig geblieben. Auch Tom hatte er diese Frage nie beantwortet.
    In Karens Nähe war er wie verwandelt. Zuerst glaubte sie, es sei nur eine neue Liebe, die ihn so verändert habe, und dass sich das nach einiger Zeit wieder geben würde, aber auch jetzt nach einem halben Jahr waren die beiden noch wie am ersten Tag. Sie bildeten eine Einheit, die scheinbar niemand zerstören konnte.
    Niemand, dachte Alicia, außer ein Mann mit einem Revolver, der Michael ins Koma schießt.

12
    Während es in New York noch tiefe Nacht war, kletterten in Delphi schon wieder die ersten Sonnenstrahlen über die Bergkämme und brachten die Phädriaden zum Leuchten.
    Delvaux stand bereits vor Karens Hütte und wartete, dass sie herauskäme. Sie hatten sich für zehn Uhr verabredet. Noch bevor die Touristenbusse eintrafen, wollte er ihr das gesamte Heiligtum zeigen.
    »Einen Augenblick, ich bin gleich bei Ihnen«, rief Karen durch ein halb offenes Fenster.
    »Bitte keine Hektik. Wir haben den ganzen Vormittag Zeit.« Delvaux lehnte sich lässig gegen das Geländer der Holzveranda und blickte auf das silbergrüne Tal und die gegenüberliegenden Felsen des Kirphis-Gebirges, als Karen mit einem kleinen Rucksack neben ihn trat.
    Delvaux wandte den Kopf. »Na, wie fühlen Sie sich heute? Haben Sie gut geschlafen?« Doch dann bemerkte er ihre dunklen Augenringe. »Pardon, hatten Sie etwa eine der berühmten delphischen Traumnächte, in denen Sie prophetische Dinge gesehen haben? Sah Ihre Zukunft so schlimm aus?«
    Karen verzog miesgelaunt das Gesicht. »Ich warne Sie, Simon. Ich hatte eine grässliche Nacht und habe kaum geschlafen. Also würde ich Sie herzlich bitten, keine Witze darüber zu machen.«
    Sie schützte mit einer Hand ihre empfindlichen Augen vor dem grellen Sonnenlicht, das von den hohen Felsen um sie herum reflektiert und noch verstärkt wurde. Die alten Ruinen im Heiligen Bezirk glänzten im strahlenden Weiß, als hätte sie jemand über Nacht neu angestrichen oder gesäubert. Sie schienen nach ihr zu rufen und sie in ihrer Mitte empfangen zu wollen, doch Karen war im Augenblick eher in gedrückter Stimmung.
    Tatsächlich hatte sie in dieser Nacht einen Albtraum gehabt, in dem ein schwarz gekleideter Mann auf Michael schoss und ihn neben einem dunklen Wasser liegen ließ. Das schwarze Wasser lechzte nach Michaels leblosem Körper, während ein dünner roter

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