Der zerbrochene Kelch
denn so etwas?«
»Ich bin oft in den Bergen. Da kann man immer mal ein Messer gebrauchen. Vor allem, wenn man nicht so schnell rennen kann«, antwortete Eliadis leichthin und strich sich über das Hosenbein.
Karen hielt das für eine Lüge oder zumindest für eine halbe Wahrheit, aber Nikos schien nicht mehr sagen zu wollen, und so nahm sie ihren Rucksack und stand auf. »Entschuldigung, aber ich muss heute Nachmittag noch am Computer arbeiten und meine Notizen machen.«
Eliadis stand ebenfalls auf. »Kein Problem. Wollen Sie in den nächsten Tagen vielleicht auch noch zur Korykischen Grotte? Ich habe übermorgen eine Touristengruppe, die ich hinführe. Möchten Sie mitkommen?«
Karen zögerte. »Ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich sie mir schon angucken, aber …«
»Simon wird sicher nicht mit Ihnen dorthin gehen. Er mag keine langen Fußmärsche durch unwegsames Gelände. Das ist ihm zu anstrengend.«
Karen sah ihn zweifelnd an. »Gibt es denn keinen gepflasterten Weg?«
»Nicht von Delphi aus. Man kann nach Arachova fahren und dort einen geteerten Weg nehmen, aber die restlichen Kilometer muss man auch von dort zu Fuß gehen. Hier von Delphi aus dauert der Marsch länger, aber er ist genauso, wie die Pilger ihn genommen haben, wobei die damals einen gepflegteren Weg zur Verfügung hatten. Der jetzige Pfad ist uneben, und wenn man nicht weiß, wo die Grotte liegt, kann man sich stundenlang verlaufen.«
Karen fuhr sich unsicher durchs Haar. »Das … hört sich irgendwie gefährlich an.«
Eliadis spürte ihre Verunsicherung und warf den letzten Stein in einem hohen Bogen zwischen die Zypressen. »Ich habe das Gefühl, dass Sie seit gerade eben mehr Angst vor mir als vor den Bergpfaden haben, Karen.«
Damit war er der Wahrheit näher, als er dachte, aber das hätte Karen niemals zugegeben.
»Unsinn, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich zur Korykischen Grotte mitnehmen würden«, erwiderte sie und stellte alle Bedenken beiseite. »Übermorgen, am Samstag? Sehr gut. Ich werde mitkommen. Doch jetzt muss ich wieder zurück und noch ein bisschen arbeiten.« Sie öffnete die Lasche des Rucksacks und zeigte auf Delvaux’ Buch. »Es gibt noch viel für mich zu tun. Delphi ist ein faszinierender Ort.«
Eliadis lächelte zufrieden. »Ja, das ist er.«
19
Ganz in Gedanken ging sie zu ihrer Hütte zurück, als sie Prof. Hillairet auf seiner Veranda ein Buch lesen sah. Einen kurzen Moment zögerte sie, ob sie zu ihrer Hütte weitergehen sollte, doch da hatte der Professor sie schon entdeckt und machte eine einladende Handbewegung.
»Madame Alexander. Wollten Sie zu mir? Kommen Sie und setzen Sie sich.«
Er stand auf und rückte einen alten Holzstuhl für Karen zurecht. Während sie noch überlegte, ob sie die Einladung höflich ablehnen sollte, war Prof. Hillairet schon im Haus verschwunden und kam nach einer Minute mit einem griechischen Rotwein und zwei Gläsern zurück.
Karen gab sich geschlagen und ging zu ihm auf die Veranda, wo sie auf dem freien Holzstuhl Platz nahm. Sie wollte keinen Wein und schüttelte leicht den Kopf, aber Hillairet ließ keine Widerrede zu.
»Nein, das können Sie mir nicht antun. Ich habe hier so selten Gäste, dass Sie mir eine große Freude machen würden, wenn Sie ein Gläschen mit mir trinken würden.« Und ohne ihre Zustimmung stellte er das Glas vor ihr auf den Tisch und goss den Rotwein ein.
»Ich wollte Sie nicht stören, Prof. Hillairet. Also wenn Sie lieber in Ruhe Ihr Buch weiterlesen wollen …«
»Vergessen Sie das Buch. Eine Unterhaltung mit Ihnen wird mir tausendmal besser gefallen.«
Karen nahm das Glas in die Hand und drehte den langen Stiel, ohne dass sie etwas trank. Gedankenvoll sah sie auf die dunkelrote Flüssigkeit in dem breiten Weinkelch.
»Monsieur Delvaux sagte, dass ich bei Gelegenheit bei Ihnen vorbeischauen und Sie nach Delphi ausfragen dürfe. Sind Sie sicher, dass Sie jetzt gerade Zeit für mich haben?«
Hillairet nickte erfreut. »Für Sie immer. Und wenn es um Delphi geht, sowieso. Was wollen Sie wissen?«
»Alles.«
»Das ist viel.«
»Ja, ich weiß. Die Messieurs Delvaux und Eliadis haben mir heute schon einiges erzählt.«
Hillairet zwinkerte mit einem wissenden Lächeln. »Soso, haben sie das? Sie waren also schon im Mu seum?«
»Ja. Und Monsieur Delvaux hat mir das Apollon- und Athena-Heiligtum gezeigt.«
»Aber dann wissen Sie doch schon alles. Simon ist ein hervorragender Kenner der hiesigen Historie, und unser Freund
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