Der zerbrochene Kelch
machen. Er hat aus diesem Ort der Wildheit einen Ort der Vernunft gemacht. Und der Schönheit. Dieser Ort hat Magie. Sie ist unzerstörbar. Spüren Sie sie nicht?«
Karen blickte zu den Phädriaden auf, die diesen heiligen Ort zu beschützen schienen. »Ja, das stimmt. Diese Felsen sind wunderschön. Sie haben ihre Magie bewahrt.«
Eliadis lächelte ihr zu. »Haben Sie sich erholt? Dann kommen Sie. Ich möchte Ihnen noch einen schöneren Blick auf den Heiligen Bezirk zeigen.«
Sie gingen die Heilige Straße bis zum Amphitheater hinauf, wo sie die alten Marmorreihen durchschritten und sich oben in die drittletzte Reihe setzten. Beide ließen den Blick über das Halbrund des Theaters und über die Ruine des Apollon-Tempels bis ins tiefe Pleistos-Tal mit dem silbrigen Meer der Olivenbäume gleiten. Nach einem kurzen genüsslichen Seufzer von Karen wandte Eliadis den Kopf und sah sie amüsiert an. »Es geht ihnen wieder besser, nicht wahr? Das ist Delphi. Dieser Blick heilt einfach alles.«
Karen musste ihm Recht geben und ließ die Kraft dieses heiligen Ortes auf sich einwirken. Die Melancholie, die sie im Museum empfunden hatte, verschwand allmählich, und eine innere Ruhe stellte sich langsam wieder bei ihr ein.
Angekommen.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, zu Hause angekommen zu sein, und gleichzeitig Angst davor, was dies bedeuten konnte. Sie hatte dieses Gefühl auch in Paris und Ägypten gehabt, und die Erinnerungen an die Erlebnisse waren wundervoll und schmerzhaft zugleich. Einerseits hatte sie da Michael kennengelernt, aber andererseits wurden auch mehrere alte Wunden aufgerissen. Oder wurden sie geheilt? Karen war sich immer noch nicht ganz sicher, wie sie ihre ungewöhnlichen Erfahrungen einschätzen sollte. Ja, sie glaubte an das, was geschehen war. Mit all seinen Konsequenzen.
Und jetzt Delphi? Würde so etwas hier wieder geschehen? Dieses Amphitheater, die große Polygonalmauer, das Schatzhaus der Athener, das Gespräch über das Adyton – das alles hatte sie mehr mitgenommen und gleichzeitig auch tiefer berührt, als sie erwartet hatte. Sie spürte, dass dieser Ort tief in ihrem Inneren etwas zu bedeuten hatte … und sie hatte Angst davor, es herauszufinden.
Minutenlang sagte keiner ein Wort, doch dann brach Karen das Schweigen. »Sie leben gerne hier in Delphi, nicht wahr?«
Eliadis schnippte einen Stein von seiner rechten Hand, mit dem er die ganze Zeit gespielt hatte. »Ja. Niemand würde mich hier wegbringen.«
»Aber im Dorf gibt es anscheinend nicht viele junge Leute, oder? Ich habe fast nur ältere Menschen gesehen.«
Er griff nach einem neuen Stein und schnippte ihn drei Reihen tiefer, wo er sich in einer Distel verfing. »Das ist hier so. Wer einen guten Job haben will, flieht in die Stadt. Viele junge Leute sind in Athen.«
»Warum Sie nicht?«
Eliadis zeigte auf seinen rechten Fuß. »Wer braucht schon einen Krüppel? Ich habe versucht, in Athen einen Job zu bekommen, aber sie haben mich alle wieder vor die Tür gesetzt. Und ich fühlte mich in Athen auch nicht wohl. Diese Stadt tut mir nicht gut. Also kam ich zurück nach Delphi, und als Prof. Hillairet mehrere Helfer für seine Ausgrabungen brauchte, meldete ich mich.«
»Hillairet tut viel für Sie, oder?«
»Mag sein. Aber er bevorzugt Simon in vielen Dingen. Ich bin nur ein Handlanger.«
Karen hatte das merkwürdige Gefühl, Delvaux verteidigen zu müssen. »Aber Simon ist gelernter Archäologe. Ist es da nicht klar, dass Prof. Hillairet enger mit ihm zusammenarbeitet und ihm speziellere Aufgaben gibt als Ihnen.«
»Das ist nicht das Problem. Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass er mir aus Mitleid hilft und Arbeit gibt, anstatt mich wie die anderen zu behandeln. Aber auf Mitleid kann ich verzichten.«
Er wäre vor Wut am liebsten aufgestanden und die Felsen hinaufgeflüchtet, aber Karen griff nach seinem rechten Arm und versuchte ihn zu beruhigen. »Ein Klumpfuß ist doch nichts Besonderes. Das lässt sich heutzutage doch operieren.«
Eliadis verzog das Gesicht. »Wenn man ein Kind ist, ja, dann wächst sich vieles wieder zurecht, aber wenn man erwachsen ist, sind die Heilungschancen schlecht. Außerdem habe ich dazu kein Geld. Es muss eben so gehen.«
Karen nickte. »Natürlich. So wie bei vielen vor Ihnen auch. Hephaistos hatte einen Klumpfuß, Lord Byron, und König Ödipus hatte auch verkrüppelte Fußgelenke.«
Eliadis senkte den Kopf, als ein zögerliches Lächeln um seine Mundwinkel huschte. »Sie meinen,
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