Der zerbrochene Kelch
ich befinde mich also in guter Gesellschaft?«
»Ich denke schon.«
Es war ihr tatsächlich gelungen, ein Lächeln auf sein sonst so ernstes Gesicht zu zaubern. Er blickte nach oben und zeigte auf einen der seltenen Königsadler, der weit über ihren Köpfen seine Kreise zog. »Einer von Zeus’ Adlern. Kennen Sie eigentlich die Entstehungsgeschichte dieses Ortes?«
»Sie meinen die Sage mit den beiden Adlern, die Zeus im Westen und Osten aufsteigen ließ und die genau über Delphi zusammentrafen und hier den Omphalos fallen ließen? Ja, die kenne ich.«
Eliadis nickte zufrieden. »Delphi – der Nabel der Welt. Wir Griechen waren zwar alle miteinander verfeindet, aber auf die weisen Orakelsprüche aus Delphi hörte jeder. Niemand wagte sich dem Wort des Apollon zu widersetzen.«
Karen holte eine kleine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und trank einen Schluck.
»Simon meint, die Sprüche seien oft zweideutig und politisch manipuliert gewesen, sodass man alles Mögliche daraus erkennen konnte.«
Sie bot Eliadis die Wasserflasche an, die er gern annahm, einen erfrischenden Schluck daraus trank und sie dann zwischen sich und Karen stellte.
»Simon ist ein Idiot. Sie werden keinen Wahrsager auf der Welt finden, der einem genau das sagt, was man tun soll.«
Karen warf einen heimlichen Blick auf das kleine weiße Haus über ihnen, das zwischen den Zypressen hindurchschaute. »Das hört sich so an, als ob Sie schon mal bei einem Wahrsager gewesen wären. War es Theophora?«
Eliadis nickte. »Natürlich. Das ganze Dorf war schon bei ihr.« Er zeigte mit der rechten Hand auf das kleine Haus. »Dort wohnt sie, unsere Pythia, aber sie mag nicht so genannt werden. Sie liest die Zukunft aus der Hand.«
Karen war bei dem Gedanken fasziniert, doch er beängstigte sie auch. »Sie waren bei ihr? Und was hat sie gesagt?«
»Dass uns eine große Prüfung bevorsteht.«
»Wen meint sie mit uns?«
»Unser Dorf – Athen – uns alle.«
Karen musste an das Erdbeben in Galaxidi denken, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Das hört sich ja schrecklich an.«
Eliadis ließ gedankenverloren einen Stein zwischen den Fingern hin und her rollen. »Ja, aber sie sagte auch, dass es Hoffnung gibt und dass man das Unglück verhindern kann.«
»Wir können die Zukunft also zu unseren Gunsten beeinflussen?«
Eliadis’ rechter Mundwinkel zuckte amüsiert, da Karen sich für dieses Thema interessierte. »Manchmal … Sie sagte, dass Gott uns einen freien Willen gegeben habe und dass wir also unseren Weg frei entscheiden könnten. Aber sie sagte auch, dass es besser sei, wenn wir Gottes Wille geschehen lassen würden. Das machen wir, wenn wir beten: ›Mein Gott, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.‹«
Zunächst war Karen irritiert, doch dann verstand sie, wie es gemeint war. Es war ihr Schicksal gewesen, dass sie vor einem halben Jahr Michael in Paris kennengelernt hatte, und doch war es ihr freier Wille gewesen, dorthin zu reisen. Niemand hatte sie dazu gezwungen. Sie hätte Julius’ Auftrag damals auch ablehnen können.
Sie beugte sich nach vorn und riss einen Grashalm ab, auf dem ein kleiner bunter Käfer krabbelte. Als er oben angekommen war, breitete er seine Flügel aus und schwirrte fröhlich davon, während Karen ihm versonnen nachsah und den grünen Grashalm durch die Finger gleiten ließ.
»Unser Leben besteht also aus Schicksal und aus freiem Willen.«
Eliadis nickte. »Ja, so ist es.«
Genau in dem Augenblick fiel Karens Wasserflasche um und rollte der nächsten Stufe entgegen, doch Eliadis reagierte sofort, reckte sich und griff nach ihr, bevor sie weiterrollen konnte. Mit einem Lächeln reichte er sie Karen zurück, die sie mit einem erstarrten Gesicht entgegennahm und in ihrem Rucksack verstaute. Mit einem Kloß im Hals deutete sie auf sein verrutschtes rechtes Hosenbein, unter dem ihr etwas Silbernes an einem Lederriemen entgegenglänzte.
»Sie … tragen ein Messer am Bein?«
»Ein Wurfmesser, ja.« Vorsichtig zog er die Hose wieder über das Messerversteck. Es war ihm merklich unangenehm, dass sie es gesehen hatte.
Karen fasste sich unwillkürlich an den Hals, an dem sie vor einem halben Jahr bei einem Überfall einen Dolch zu spüren bekommen hatte. Es war ein schreckliches Erlebnis gewesen, bei dem sie echte Todesangst gefühlt hatte, aber Michael hatte sie damals aus dieser Situation retten können. Seitdem waren ihr Menschen, die Messer trugen, äußerst suspekt.
»Wozu brauchen Sie
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