Der zerbrochene Kelch
kilometerweit das ganze Tal überblicken, nicht wahr?« Sie starrte auf die Wand rechts neben sich. »Und jetzt ist sie eingeschlossen und sieht nur noch eine langweilige weiße Wand.«
»Na ja«, gab Eliadis zu bedenken, »sie war zweitausend Jahre lang unter dem Tempel vergraben und hat nur dunkle Erde gesehen. Dagegen ist dies doch schon eine erhebliche Verbesserung, finden Sie nicht?«
»Aber warum stellt man sie nicht wieder an ihre alte Stelle? Sie würde doch einen prächtigen Eindruck auf jeden Delphi-Besucher machen.«
Eliadis hob die Augenbrauen. »Diese Sphinx draußen im Gelände wieder aufstellen? Da wäre sie doch nach ein paar Tagen gestohlen. Was meinen Sie, was einigen Kunstsammlern auf der Welt eine echte archaische Plastik wert wäre? Allerdings hätte man eine Kopie dort hinstellen können, das gebe ich zu. Aber so etwas kostet eben Geld, und Griechenland hat schon genug Probleme damit, die vorhandenen Kunstwerke zu erhalten. Kommen Sie, lassen Sie uns weitergehen.«
Er führte sie durch das gesamte Museum, aber Karen wurde von Raum zu Raum stiller. Der Anblick der Mischkrüge, Dachverzierungen und Statuen aus der Vergangenheit schienen ihr nicht gut zu tun, doch vielleicht würde die Schönheit des berühmtesten delphischen Werkes sie aufmuntern? Sie traten in den Raum, in dem in der Mitte eine Bronzestatue auf einem niedrigen Podest thronte – der Wagenlenker.
Eine Statue voller Reiz, denn das faltenreiche Gewand und die Locken des Jünglings waren einzeln ausgearbeitet, genauso jede einzelne Wimper. Doch Eliadis bemerkte, dass Karen während seiner Erklärungen geistesabwesend starr an der Statue vorbeischaute. Was war mit ihr los? Wenn diese Bronzearbeit sie nicht begeistern konnte, wusste er sich nur noch mit einem Mittel zu helfen – Gold.
Also ging er mit ihr in den Raum mit den goldenen Fundstücken, die tatsächlich fast nur aus Blattgold und wenigen massiven Goldanhängern bestanden, aber dennoch spürte Karen einen Kloß im Hals, als sie diesen Schmuck und die zerbrochenen Teile des silbernen Ochsen betrachtete. Sie bekam ein mulmiges Gefühl und Herzrasen, bis es ihr zu viel wurde. Sie musste hier raus. Ohne ein Wort drehte sie sich um und eilte durch die Räume an verdutzten Touristen vorbei bis zur Treppe.
»Karen, was ist denn?«
Eliadis versuchte sie am Arm zu packen, aber sie war schon an ihm vorbei und rannte die Treppe hinunter.
Raus. Nur raus aus diesem Haus.
Eliadis eilte ihr nach.
»Warten Sie!«
Doch Karen blieb nicht stehen. Sie rannte aus dem Museum und dann auf dem kurzen Pfad zum Heiligtum hinauf. Erst als sie nach einigen Minuten schnaufend auf der Heiligen Straße war, blieb sie stehen, lehnte sich gegen eine niedrige Steinmauer und sah auf das silbergrüne Pleistos-Tal hinab. Die Sonne strahlte ihr hell ins Gesicht und schien sie mit ihrer Wärme trösten zu wollen, während Eliadis humpelnd zu ihr aufschloss.
Er wischte sich über das verschwitzte Gesicht und fragte: »Was war denn gerade eben los? Warum sind Sie plötzlich weggelaufen?«
Karen vermied es, ihn anzusehen. »Entschuldigung, aber ich konnte das nicht länger ertragen.«
»Was meinen Sie?«
»Diese … diese Bruchstücke in den Räumen des Museums. Was ist von all dem Gold, den geweihten Waffen und Statuen geblieben, die hier hundertfach standen? Einige beschädigte Statuen, unvollständige Giebelfriese und ein bronzener Wagenlenker, der nur eine Nebenfigur eines unwichtigen Ensembles war. Außerdem ein bisschen Gold, das die Delpher damals vergruben, als die Statuen beschädigt und unvollkommen wurden.« Karen schüttelte fassungslos den Kopf. »Nichts ist geblieben vom ehemaligen Glanz und von der Pracht dieses Ortes.«
»Finden Sie?«
»Sie nicht? Dann sagen Sie mir, was Delphi so einzigartig macht, dass Apollon sich ausgerechnet hier sein irdisches Zuhause schuf?«
Eliadis’ dunkle Augen glänzten in der Sonne, als er sich umschaute. »Die Ewigkeit. Es sind die Berge um uns herum, das Alter dieser Berge, die in Jahrmillionen geschaffen wurden. Sie sind Ergebnisse der Urgewalten, denen wir Menschen bisher nur staunend zuschauen konnten. Genauso die Quellen mit klarem Wasser aus der Tiefe dieser Berge, das mal sprudelt und mal versiegt. Oder die faszinierenden Höhlen und Grotten. Dieser Ort zeigt uns kleinen Menschen in vielen Facetten, wie abhängig wir von der Natur sind und dass wir sie nicht immer beherrschen können. Apollon hat gerade diesen Ort ausgesucht, um uns Mut zu
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