Der zerbrochene Kelch
Nikos kann Ihnen jeden Spruch und jede Legende wiedergeben, die es über Delphi gibt.«
Sie nahm ihren Collegeblock aus dem Rucksack und schlug eine leere Seite auf. »Aber vielleicht haben die beiden etwas vergessen?«
Hillairet machte ein nachdenkliches Gesicht. »Na ja, an einem Tag erfährt man sicherlich nicht alles über Delphi, da gebe ich Ihnen Recht. Es ist eben ein Ort voller Zauber, den man nicht innerhalb einiger Stunden erfassen kann. Die Reisebustouristen wissen gar nicht, was ihnen entgeht, wenn sie nur drei Stunden durch die Ruinen marschieren und das Museum besuchen. Delphi ist ein Ort, an dem man mindestens einmal übernachten muss, denn nur dann kann man erleben, wie die Sonne am Morgen langsam über dem Tal aufsteigt. Delphi ist ein Ort des Lichts. Kein Wunder, dass Apollon von allen Orten in Griechenland ausgerechnet diesen erwählt hat, um sich hier niederzulassen. Nirgendwo anders glühen die Felsen im Abendlicht wie unsere Phädriaden am Fuße des Parnass, des alten Sitzes der Götter, lange bevor der Olymp populär wurde. Dies hier ist der Ursprung des alten Griechenlands – der Nabel der Welt.«
Karen machte sich eine kurze Notiz. »Sie meinen damit den geistigen Ursprung, nicht wahr? Denn historisch gesehen war die minoische Kultur auf Kreta doch erheblich älter als Delphi, oder?«
Hillairet grinste ertappt und griff nach seinem Weinglas. »Entschuldigen Sie, wenn ich ein bisschen pathetisch geworden bin, aber die Magie dieses Ortes wirkt manchmal tief auf mich ein. Warten Sie erst einmal ab, bis Sie einen delphischen Traum gehabt haben, dann werden Sie mich verstehen.«
Nur zu gut, dachte Karen bitter, als sie sich an den Albtraum von heute Nacht erinnerte, in dem Michael von dem dunklen Wasser verschluckt wurde. Bei dem Gedanken schlang sich immer noch eine eiskalte Pranke um ihr Herz und schnürte es zu. Wie sehr sie seine Hilflosigkeit in dieser Nacht gespürt hatte und trotzdem machtlos war und mit ansehen musste, wie ein Fremder ihn tötete. Es war unerträglich gewesen.
Sie schaffte es kaum, sich von dem Gedanken an Michael loszureißen, als plötzlich Hillairets vorwurfsvolle Stimme wieder an ihr Ohr drang.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
Sie zuckte leicht zusammen, als er sie in die Realität zurückholte, und warf ihm schnell einen entschuldigenden Blick zu.
»Es tut mir leid, Prof. Hillairet. Ich … ich war kurz etwas abgelenkt.«
Hillairet brummte nachsichtig, da er vermutete, dass Delvaux und Eliadis der jungen Frau schon den Kopf verdreht hatten. Oder lag es vielleicht doch an etwas anderem?
»Natürlich waren die minoische Hochkultur und auch die mykenische Zeit auf dem Peloponnes vor der delphischen Archaik«, fuhr er fort. »Aber während die minoische und mykenische Kultur staatliche Formen in Einzel-gebieten waren, war Delphi eine geistige, religiöse Hochkultur des gesamten Griechenlands, vergleichbar mit Luxor in Ägypten, Machu Picchú in Peru oder dem heutigen Vatikan in Rom. Die gesamte Welt richtete sich damals nach den Anweisungen dieses religiösen Zentrums. Es war richtungweisend und versuchte mit weisen Ratschlägen den Menschen zu helfen. Und was ist davon geblieben?« Er nahm einen kleinen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Griechischer Wein, wie ihn die Römer liebten. Traurig, traurig. Die Römer verdrängten allmählich den Glauben an Apollon und die Weissagekraft der Pythia. Rom und Konstantinopel wurden die neuen religiösen Zentren, und Delphi verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Der christ liche Kaiser Theodosius verbot die heidnischen Kulte, und unter seinem Sohn Arkadios wurde der Apollon-Tempel sogar geplündert und niedergerissen. Das Orakel von Delphi existierte nicht mehr. Kennen Sie den berühmten letzten Delphi betreffenden Spruch, der überliefert ist?«
»Nein, ich glaube nicht. Wie lautet er?«
Hillairet setzte sich gerade hin und räusperte sich.
»›Saget dem Herrscher, zerstört liegt die kunstgesegnete Stätte, Apollon Phoibos besitzt kein Dach mehr und keinen prophetischen Lorbeer; verstummt ist der sprechende Quell, es schweigt das murmelnde Wasser.‹«
Karen betrachtete deprimiert ihren Collegeblock, auf dem sie einige Notizen gemacht hatte. »Das prophetische Wasser der Kastalia-Quelle verstummte also für immer?«
Hillairet nickte. »Bis zur heutigen Zeit. Erdbeben und Erdrutsche begruben die Ruinen unter sich, und erst 1892 begann die École Française das Heiligtum wieder
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