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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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jetzt. Ich ertrage solche Geschichten nicht länger. Bitte lassen Sie uns über schönere Dinge reden.«
    Delvaux nickte kurz und führte sie dann zu einem kleinen Tempel.
    »Das Erechtheion, das älteste Heiligtum auf der Akropolis.«
    Und nun berichtete er, wie Athena und Poseidon die Vorherrschaft auf dem Tempelberg mit einem Wettkampf ausfechten mussten. »Sie sollten für die Menschen etwas Sinnvolles entstehen lassen, woraufhin Poseidon als Gott des Meeres und des Wassers eine Quelle zum Sprudeln brachte, aus der jedoch salziges Wasser kam. Man sieht, nobody is perfect. Das war es auch, weshalb die alten Griechen ihre Götter so liebten. Trotz all ihrer Macht versagten sie manchmal. Athene hingegen ließ einen Olivenbaum sprießen, der den Menschen mit seinen Früchten nützlicher war, sodass das Schiedsgericht ihr den heiligen Berg zusprach.«
    Karen hörte ihm nur mit halbem Ohr zu, während sie Eliadis beobachtete, der sie nicht um den Tempel herum begleitet hatte, sondern sich seit einer Viertelstunde nicht von der Stelle bewegt hatte und regungslos vom Felsen auf die Stadt hinunterschaute. Die Tempel auf der Akropolis schienen ihm egal zu sein, aber Karen vermutete, dass er schon so oft hier gewesen war, dass sie für ihn nicht mehr interessant waren. Im Gegensatz zu Delvaux, der ihr am liebsten jedes Szenario der Tempelfresken einzeln erklärt hätte. Sie ließ ihn reden, aber mit den Gedanken war sie bei Eliadis.
    Sie folgte Delvaux um das Erechtheion herum und ließ sich von den schönen Kyriatiden des Südportals beeindrucken, deren Rockfalten tatsächlich harmonisch die Säulenstruktur unterstrichen, wie Delvaux bemerkte. Als sie sich wieder den Propyläen näherten und die Akropolis verlassen wollten, gab Karen ihm ein Zeichen, dass er Nikos nicht rufen solle.
    »Ich hole ihn«, sagte sie zu Delvaux und war zu ihm hingeeilt.
    Eliadis hatte die ganze Zeit zwischen dem Parthenon und dem Abgrund des Felsens auf einer Mauer gestanden. Er hatte es nicht einmal bemerkt, dass Karen und Delvaux weitergegangen waren, sondern stand wie eine einsame Statue auf dieser Mauer und starrte regungslos auf das grauweiße Steinmeer der Häuser von Athen unter sich.
    Meine Stadt.
    Karen hatte ihm während Delvaux’ Ausführungen immer wieder einen Blick zugeworfen, aber er hatte ihnen den Rücken zugekehrt und sie nicht beachtet. Auch von den Touristen, die manchmal dicht an ihm vorübergingen, ließ er sich nicht stören. Erst als Karens Rundgang über die Akropolis beendet war und sie plötzlich neben ihm stand, schien er aus seiner Trance zu erwachen.
    Karen bemerkte, wie blass sein Gesicht war. Sie legte eine Hand sanft auf seine rechte Schulter. Er machte einen niedergeschlagenen Eindruck, als ob er sich gleich den Felsen hinunterstürzen wollte.
    »Was ist mit Ihnen?«
    Ihre Hand wanderte zu seiner rechten Hand hinunter und drückte sie warmherzig. Die Berührung irritierte ihn, doch als er kurz in Karens grüngraue Augen sah, lief ein warmes Prickeln seinen Arm hinauf, und ein wohliges Gefühl brachte ihn zum Lächeln. Über ihnen schien die helle Sonne und gab einen Blick nach Süden bis nach Piräus und Salamis im Golf von Ägina frei.
    Karen lächelte zögernd. »Dieser Blick über Athen ist schön und traurig zugleich, nicht wahr? Das alte, mächtige Athen versinkt im Beton, und die Autoabgase zerstören die Akropolis.«
    »Sie zerstören nur das, was die Franzosen, Engländer und Deutschen noch davon übrig gelassen haben«, entgegnete Eliadis resignierend.
    Karen nickte reuig und sah zum antiken Dionysos-Theater am Fuße des Felsens hinunter, dann wanderte ihr Blick zum römischen Halbrund des Odeons, dessen Steinquader schon seit zweitausend Jahren von der griechischen Sonne ausgetrocknet wurden.
    »Römer«, murmelte Eliadis verächtlich, als er ihrem Blick folgte. »Sie haben mehr zerstört, als die Autoabgase es jemals können. Die Römer haben uns bewundert, aber nie begriffen. Sie haben unsere Kultur vernichtet, unsere Götter zu ihren eigenen gemacht und ihnen neue Namen gegeben. Sie haben unsere Kunstwerke geklaut und in ihren römischen Villen und Palästen aufgestellt.« Er hob seine schmalen Schultern und atmete einmal tief durch. »Erst kamen die Perser, dann die Römer, dann die Westgoten, die Kreuzritter, und vierhundert Jahre litten wir unter der Türkenherrschaft. Aber wir Griechen sind immer Griechen geblieben, mit unserer eigenen alten Kultur und unserer alten Sprache. Niemand konnte uns

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