Der zerbrochene Kelch
einverstanden. »Ja, das wird genügen.«
Er betrachtete ihre Handgelenke. »Sie tragen ja gar keine Uhr. Wie wollen Sie dann rechtzeitig da sein?«
»Ich trage schon lange keine mehr. Ich brauche so etwas nicht. Ich werde trotzdem pünktlich sein.«
»Na gut, wie Sie meinen.«
Während Delvaux und Eliadis in die Stadt gingen, wandte sich Karen der Metrostation zu und nahm die Linie zum Omonia-Platz. Von dort aus ging sie zu Fuß weiter zum Archäologischen Nationalmuseum in die Patisia-Straße.
Das Museum war ein sandfarbener neoklassizistischer Tempelbau mit weißen Säulen und rotem Ziegeldach, das umgeben von hohen Palmen in einem hübschen Park stand, in dem sich gepflegte Rasenflächen mit bunten Blumenbeeten harmonisch ablösten. Die hohen Palmen begleiteten den Fußweg bis zum Eingang des Museums, das sich nach Karens Stadtführer durch seine Vielzahl an antiken Stücken vor dem British Museum in London und dem Louvre in Paris nicht zu verstecken brauchte.
Und tatsächlich – als Karen endlich vor den berühmten goldenen Masken stand, die Heinrich Schliemann vor über hundert Jahren in den Gräbern von Mykene gefunden hatte, ging für sie ein Jugendtraum in Erfüllung. Die »Goldmaske des Agamemnon«, wie Schliemann sie damals falsch, aber medienwirksam tituliert hatte.
Als Jugendliche hatte sie Schliemanns Bücher über die Ausgrabungen von Troja und Mykene verschlungen, und jetzt stand sie tatsächlich vor den echten Goldmasken, so wie er sie damals in Händen gehalten hatte. Sie war völlig fasziniert. Und dort, einige Schritte weiter, lagen die berühmten Dolche mit den goldenen Löwenfiguren und dort der schwarz-goldene Stierkopf aus Mykene. Alles real gewordene Bilder ihrer Jugendträume, in denen sie selbst unbedingt Archäologin werden und solche Schätze finden wollte. Später jedoch wurde ihr klar, dass sie für die langwierige Ausgrabungsarbeit nicht die Geduld haben würde und das nötige Maltalent fehlte. Sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen und war mit ihm zufrieden, denn er hatte sie hierher geführt.
Karen streifte weiter durch das Museum und genoss die jahrtausendealten Statuen, Büsten und Reliefblöcke um sich herum. Es war wie ein steinerner Wald, gemacht von den besten Künstlern der damaligen Welt. Gemacht für die Ewigkeit.
Doch je mehr Karen von diesen wunderschönen Statuen betrachtete, desto mehr stieg eine Melancholie in ihr auf, wie es auch schon im Museum von Delphi geschehen war. Was war der bronzene Wagenlenker gegen diesen herrlichen Poseidon von Atemision, der überlebensgroß vor ihr stand und mit weit ausholender Armbewegung seinen Dreizack zu schleudern schien? Was war dagegen der delphische Jüngling, der gefügig das Zaumzeug eines Pferdes hielt? Was galten die Reliefbruchstücke in Delphi gegen diese vollständig erhaltenen Friese hier in Athen? Karen fühlte einen tiefen inneren Schmerz, als sie sich ausmalte, wie prachtvoll es in Delphi gewesen sein musste und wie wenig davon heute übrig geblieben war. Der Gedanke war für sie unerträglich.
Als dann auch noch einige Schritte weiter ein marmorner Apollon mit ausgestrecktem Zeigefinger und ernstem Gesicht auf sie deutete, war es um ihre Contenance geschehen. Sie drehte sich um und floh aus der Kühle des Museums hinaus in die Mittagshitze Athens. Ohne zu überlegen eilte sie irgendwelche Straßen entlang. Es war ihr egal. Hauptsache raus aus diesem Haus und weg von dem anklagenden Apollon.
Es dauerte eine Weile, bis Karens Schritte langsamer wurden und sie sich atemlos gegen eine Hauswand lehnte. Wo war sie? Wo war sie hingelaufen? Sie wusste es nicht genau und setzte sich erst mal in der Nähe einer Kreuzung auf eine schmale Steinmauer, um auf ihrem Stadtplan nachzuschauen. Die Straßennamen an den Hausmauern halfen ihr nicht weiter, da die Schilder auf Griechisch beschriftet waren. Also ging sie zu einem athenischen Periptero und fragte den Kioskbesitzer auf Englisch und Französisch, ob er ihr sagen könne, wo sie sich befinde. Der Mann verstand sie zwar nicht, doch als Karen auf ihren Stadtplan deutete, nahm er ihr die Karte aus der Hand und zeigte auf die Themistokleous-Straße südöstlich des Museums.
Karen freute sich über seinen Hinweis, kaufte dem Kioskbesitzer noch eine Flasche Mineralwasser und einige Postkarten ab und machte sich dann zu Fuß auf den Weg zur alten Universität. Bei ihrer Flucht aus dem Museum hatte sie instinktiv den richtigen Weg gewählt und brauchte jetzt keinen Umweg
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