Der zerbrochene Kelch
alten Steine, die als Wege dienten, auf das mächtige Bauwerk zu, an dem an einer Ecke ein Stahlgerüst angebracht war, um einige Restaurierungen durchzuführen. Der athenische Smog hatte dem Tempel arg zugesetzt, sodass er oft Verschönerungskorrekturen und Konservierungskuren brauchte.
Delvaux ging östlich um den Parthenon herum. »Der heutige Tempel steht auf den Resten eines früheren Tempels, der von den Persern 480 v. Chr. niedergebrannt wurde. Aber Perikles machte aus diesem kargen Felsen dreißig Jahre später eine großartige Kultstätte. Er holte die besten Baumeister und Phidias, den bedeutendsten Bildhauer seiner Zeit, um den Göttern einen ehrenvollen Platz zu geben. Die Leute glauben immer, dass dieser Tempel größer wäre als der in Delphi, dabei sind sie fast gleich groß. Aber der hier steht eben frei auf dem Tafelberg, und der in Delphi ist von steilen Felsen umringt.«
Sie gingen um die nördliche Westecke des Tempels herum, als Delvaux auf ein Podest zwischen den Propyläen und dem Erechtheion, einem kleineren Tempel, zeigte.
»Dort drüben stand sie, eine sechzehn Meter hohe Bronzefigur der Athena Promachos. Athena, die Schützerin der Stadt. Um seine ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen, nahm Perikles sogar Geld aus der Verteidigungskasse, was viele Athener kritisierten.«
Karen gefiel der Gedanke auch nicht. »Zu Recht, wie ich finde. Es war riskant, Gelder aus der Verteidigung in Tempelkunst zu investieren.«
Delvaux konnte sich ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. »Na ja, investieren ist das richtige Wort, denn wenn man Athena mit diesen Prachtbauten gewogen stimmen konnte, waren die Gelder doch korrekt zur Verteidigung und zum eigenen Wohl eingesetzt.« Er führte Karen weiter zum Erechtheion. »Außerdem hat es anscheinend funktioniert, denn die Perser haben Athen nach 480 v. Chr. nie wieder angegriffen.«
Karen fühlte, wie eine Frage tief aus ihrem Innersten kam. »Stimmt es, dass Athen in früheren Feldzügen gegen die Perser verraten wurde?«
Delvaux nickte. »Ja, mehr als einmal, aber einem der Verräter ist es nicht gut bekommen. Dareios hielt sein Versprechen und gab ihm die zugesagten Goldstücke. Danach ließ er ihn enthaupten.« Delvaux kratzte sich am Nacken. »Er hätte es besser wissen müssen, bevor er seinen Bruder, einen Archonten von Athen, verriet.«
Karen war entsetzt. »Der eigene Bruder hat ihn verraten? Aber wie konnte er so etwas nur tun?«
»Kletos war verunstaltet und hasste seinen Bruder. Er war der Erstgeborene unter den Brüdern, aber er hatte einen Buckel, und da die Griechen meinten, dass ein gesunder Geist nur in einem gesunden Körper sein könne, wurde sein schöner Bruder Agapios immer bevorzugt und schließlich sogar ein führender Archont von Athen. Kletos hat diese Bevorzugung nie verwinden können und sich dann später bitter gerächt.«
»Aber … aber warum hat er seinen Bruder nicht einfach getötet?«, fragte Karen fassungslos. »Warum musste die ganze Stadt den Persern zum Opfer fallen?«
»Weil er auch die Bürger Athens hasste. Sie verhöhnten ihn in aller Öffentlichkeit und lästerten in den Gassen über ihn. Nein, der Untergang der Stadt war für ihn ein Genuss.«
Karen fröstelte, obwohl sie direkt in der Sonne standen und der Wetterbericht im Autoradio über fünfunddreißig Grad Celsius gemeldet hatte. Sie hob den Kopf und sah in Delvaux’ jetzt ernstes Gesicht. »Wie kann man nur so gemein sein?«
»Wen meinen Sie?«, fragte Delvaux zurück. »Die Athener oder Kletos?«
»Okay, die Athener waren keine Engel, aber sich so zu rächen und auch Frauen und Kinder dem Feind zu überlassen … Er muss sich wirklich tief verletzt gefühlt haben, um so zu handeln.«
Delvaux nickte. »Das hat er. Und zum ersten Mal hatte er das Machtgefühl, über Athen entscheiden zu können. Über all die Menschen, die ihn so lange gequält hatten.«
»Trotzdem ist es ein verachtenswerter Verrat.«
»Ja, das meinte Dareios wohl auch. Deswegen ließ er ihn hinrichten, sobald er genug Informationen von ihm bekommen hatte.«
Sie gingen beide den Hauptweg auf der Akropolis weiter, während Karen gedankenverloren mit ihrem Fuß einen kleinen Stein wegkickte. »Kletos war wirklich naiv. Er hätte wissen müssen, dass der Perserkönig ihn nicht gehen lassen würde.«
»Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass er naiv war. Er wusste, welches Risiko er einging. Und das war es ihm wert.«
Karen schüttelte sich bei dem Gedanken. »Nein, Schluss
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