Der zerbrochene Kelch
zu machen.
Langsam ging sie durch die Menschenmassen, die sich durch die Hauptstraßen quälten, und wunderte sich, dass sich niemand an die Verkehrsregeln hielt. Fußgänger passierten trotz roter Ampel die Straßen, und auch Autos und Busse fuhren nach Augenmaß. Jeder musste mit allem rechnen, und so passten alle auf, dass nichts passierte. Trotzdem sah Karen mehr als einmal, wie junge Passanten von einem wütenden Busfahrer angehupt und beschimpft wurden, aber einfach weitergingen und ungerührt die Schimpfwörter über sich ergehen ließen. Andererseits sah Karen auch, wie ein Fahrradfahrer mit quietschender Bremse einem der gelben Taxis ausweichen musste, das es trotz roter Ampel eilig hatte. Polizisten sah Karen keine, die dieses Chaos in geregelte Bahnen hätten bringen können, aber wozu auch? Das System funktionierte auch ohne sie.
Die Athener hatten sich daran gewöhnt. Jeder kam an sein Ziel, man musste nur ein bisschen mehr auf die anderen Menschen achten.
Mehrmals kam Karen an weiteren Peripteros vorbei, den kleinen quadratischen Kiosken, deren Auslagen mit Zeitungen und Zeitschriften voll waren und vor denen Männer oft hitzig miteinander diskutierten. Das schien ihnen Spaß zu machen, denn Karen sah öfter kleine Männergruppen in den Straßen und den Cafés, die sich zwar nicht stritten, aber intensiv gegensätzliche Meinungen zu vertreten schienen und wie zu Perikles’ Zeiten irgendwelche Themen auszudiskutieren hatten.
Kurz vor halb eins erreichte Karen trotz des athenischen Verkehrs pünktlich das Gelände der alten Universität, wo Prof. Laskaridis noch residierte, obwohl viele Fakultäten aus Platzmangel das alte Campus-Gelände verlassen hatten und in andere Stadtteile umgezogen waren.
Prof. Laskaridis war ein Mann mit Halbglatze, aber noch dunklem Haar und schwarzer Hornbrille. Er reichte ihr mit einem kleinen listigen Blick die Hand.
»Ah, Mrs. Alexander. Wie geht es Ihnen?«
Er deutete auf eine lederne Sitzecke neben der Tür und wartete, bis sich Karen dort hingesetzt hatte.
»Möchten Sie etwas trinken? Sie sind doch hoffentlich mit der Metro gekommen, oder? Zu Fuß ist es mittags viel zu warm. Möchten Sie ein Mineralwasser oder einen Tee?«
»Ein Mineralwasser hätte ich gern. Nein, ich bin nicht mit der Metro gefahren, sondern durch die Straßen gewandert. Ich wollte ein bisschen Athen erleben.«
Laskaridis schmunzelte. »Das Athener Verkehrschaos etwa? Jaja, Chaos ist ursprünglich ein griechisches Wort«, erklärte er, während er zu einem Wandschrank ging. »Es gibt mir sehr zu denken, dass andere Völker ausgerechnet unsere Bezeichnung übernommen haben, aber gegen Chaos sind Sie ja gefeit, wie ich sehe, denn Sie tragen eine ägyptische Maat-Kette. Die Göttin der Weltordnung. Waren Sie schon mal in Ägypten?«
Karen nickte, und für einige Sekunden tauchten schöne Erinnerungen an den Nil, die Tempel und die braunen Sandfelsen auf. Dann holten Laskaridis’ Worte sie wieder nach Griechenland zurück.
»Ägypten ist wundervoll, aber wir haben auch viel zu bieten, finden Sie nicht? Waren Sie schon in einem unserer Museen?«
Karen versuchte sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. »Ich komme gerade vom Archäologischen Nationalmuseum.«
»Ah ja. Dort, wo all unsere großen Schätze lagern. Aber im Benaki-Museum waren Sie noch nicht? Das kann ich Ihnen auch noch sehr empfehlen. Das würde sich lohnen, glauben Sie mir.« Er öffnete die Türen des Wandschranks und entnahm ihm zwei Gläser und eine Kunststoffflasche mit Wasser. »Unsere Vorväter haben uns viel hinterlassen, auf das wir stolz sind, und damit meine ich nicht nur unsere antiken Kunst- und Bauwerke. Was wäre die heutige Welt ohne die griechischen Philosophen? Ohne die Demokratie? Ohne Mathematik?«
Karen schmunzelte, als sie eins der Gläser entgegennahm, die der Professor mit Wasser gefüllt hatte. »Also, ich persönlich hätte sehr gut ohne den Satz des Thales auskommen können.«
Laskaridis neigte den Kopf etwas zur Seite. »Sie stehen mit den Naturwissenschaften auf Kriegsfuß? Na ja, das macht nichts. Dafür sind Sie durch die Literatur ein Liebling Apollons und der Musen. Wie ich von Mr. Artois hörte, beschäftigen Sie sich zurzeit mit dem Orakel von Delphi? Ein faszinierendes Gebiet, muss ich sagen. Von der Baumasse ist leider nicht mehr viel vorhanden, und bei den historischen literarischen Berichten ist es problematisch, dass der eine vom anderen abgeschrieben hat. Und unsere
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