Der zerbrochene Kelch
die Ratsuchenden.
Karen ging durch die lichtdurchflutete Halle zum Büchermagazin der Bibliothek, wo sie an einem Computer eine Abfrage nach der Signatur des von Artois empfohlenen Buches machte. Tatsächlich zeigte der Computer ihr auch die Signatur Ai333 an, und nach einem kurzen Blick auf eine Karte neben dem Computer, die die Bereiche des Magazins systematisch darstellte, wanderte sie los. Langsam suchte sie die langen Bücherreihen ab, doch schien es eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie in einem der hintersten Regale Bücher mit ähnlichen Signaturen fand. Aber das, das sie suchte, war nicht da. Stattdessen klaffte eine schmale Lücke in der Bücherreihe.
Enttäuscht ging sie nochmals die Bücherreihen rechts und links neben der Lücke durch und hoffte, dass die Biblio theksangestellten das Buch vielleicht falsch einsortiert hatten, doch leider hatten sie keinen Fehler gemacht. Das Buch war nicht da.
Plötzlich legte sich eine Hand auf ihre rechte Schulter, und eine wohlige Wärme breitete sich in Karen aus. Ein Mann in strahlend weißer Galabiya und mit einem weißen Turban glitt an ihr vorbei und griff zielbewusst nach einem alten Band, den er aus dem Regal herauszog.
» Dies ist das Buch, das Sie brauchen, Mrs. Alexander«, sagte er und lächelte ihr zu. Karen blieb für einen Augenblick der Atem weg, als sie den Mann mit dem weißgrauen Bart neben sich stehen sah.
»Mr. El Bahay! Was machen Sie denn hier?«
Der Ägypter neigte den Kopf und griff nach Karens Hand, die sie ihm freudestrahlend entgegenhielt. Sein Lächeln war warm und freundlich. Wann hatten sie sich das letzte Mal gesehen? War es wirklich erst ein halbes Jahr her, seit er sie und Michael Mansfield im Tal der Könige durch ein neuentdecktes Grab geführt hatte? Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
»Hier.« Er reichte ihr ein kleines dickes Buch, auf dem sie die abgewetzten Buchstaben eines englischen Titels las.
»Sagen und Legenden aus dem alten Griechenland«, murmelte Karen und schaute auf die Signatur. »Aber dieses Buch hatte ich nicht gesucht.«
El Bahay nickte. »Das mag sein, aber das Buch hat Sie gesucht, Mrs. Alexander. Lesen Sie es. Es wird Ihnen weiterhelfen. Wie geht es Mr. Mansfield?«
»Ich denke, gut. Er ist in New York.«
El Bahays Blick umwölkte sich. »Sind Sie sicher? Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«
»Vor einigen Tagen. Aber er hat mir gestern eine E-Mail geschickt.«
El Bahays Miene verdüsterte sich. Er schien zu ahnen, dass mit Mansfield etwas nicht stimmte. »Dann sollten Sie ihn mal wieder anrufen.«
»Das werde ich tun. Warum sind Sie eigentlich hier?«, fragte sie neugierig.
El Bahay lächelte geheimnisvoll. »Ich habe für Mr. Kennard und die American University of Cairo einige interessante Scherben und Ostraka hier in Athen in der Universität abgeliefert. Sie wissen ja, wie das ist …« Er grinste. »Mr. Kennard meinte, dass die Artefakte wichtig seien, und wollte sie niemand anderem anvertrauen.«
Karen lächelte leise, als sie an den rundlichen Chefarchäologen von KV78 denken musste, den sie letztes Jahr im September im Tal der Könige kennengelernt hatte. Unwillkürlich griff sie nach ihrer goldenen Maat-Kette an ihrem Hals, als sie sich daran erinnerte, wie sehr es ihn gestört hatte, dass sie in einem Grab das Bildnis der Maat berührt hatte. Aber wie hätte sie dieser wunderschönen alten Malerei widerstehen können? Und schließlich hatte sie auch das Recht gehabt, diese Wandmalerei zu berühren. Wenn nicht sie, wer dann?
El Bahay sah ein altes Leuchten in ihren Augen und lächelte. Die Zeit schien für einen Moment stillzustehen. Aber nur für einen Moment.
»Das andere Buch, das Sie suchen, ist nicht da.«
»Ich weiß.« Missmutig sah sie auf die Lücke in der Buchreihe, wo es hätte stehen müssen. »Es ist wahrscheinlich ausgeliehen worden.«
»Oder es wurde gestohlen.«
Zweifelnd blickte sie El Bahay an. Aber vielleicht hatte er doch Recht, denn das Buch war im Computer nicht als ausgeliehen vermerkt gewesen. Leise Befürchtungen stiegen in ihr auf. Würde alles wieder so beginnen wie in Paris?
El Bahay schien ihre Befürchtungen in ihrem Gesicht lesen zu können. »Keine Angst, das Buch ist nicht wichtig für Sie. Vertrauen Sie darauf, Sie bekommen alles, was Sie brauchen. Wie lange bleiben Sie noch in Athen?«
»Nur ein paar Stunden«, antwortete sie. »Ich fahre heute Nachmittag wieder nach Delphi.«
»Das ist gut. Tun Sie das. Ich werde mich jetzt auch von Ihnen
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