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Der zerbrochene Kelch

Der zerbrochene Kelch

Titel: Der zerbrochene Kelch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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ausführlichen Berichterstatter Plutarch und Pausanias kamen zu spät. Sie konnten nur noch eine Bestandsaufnahme ihrer Zeit machen, sechshundert Jahre nach Delphis Höhepunkt.«
    Für Karen war dieser Mangel unbegreiflich. »Wie konnte es nur passieren, dass es keine genauen Berichte aus der klassischen und archaischen Zeit gibt? War das Orakelverfahren so geheim, dass niemand darüber berichten durfte?«
    »Nein, ganz im Gegenteil, sie waren jedem Griechen so gut bekannt, dass sich einfach niemand die Mühe machte, sie aufzuschreiben, weil das verschwendete Zeit gewesen wäre. Überlegen Sie mal. Wenn Sie heute Tagebuch führen würden und Sie müssten beim Amt Ihren Personalausweis erneuern lassen, dann würden Sie doch auch nicht ins Tagebuch schreiben: ›War heute beim Amt. Der Beamte hatte einen blauen Anzug an, trug eine kurzhaarige Frisur und Brille. Zuerst nahm er meine Personalien auf, und dann stempelte er dies und stempelte das …‹ Nein, Sie würden nur ins Tagebuch schreiben: ›Ich war heute beim Amt, um meinen Personalausweis verlängern zu lassen.‹ Punkt. Es gibt Dinge, die beschreibt man nicht näher. Und die Orakelbefragung war zur damaligen Zeit auch so ein selbstverständlicher Vorgang. Leider. Selbst unsere großen Dichter Homer und Aischylos redeten nur indirekt über die Orakelbefragung. Das stand einfach nicht zur Debatte, sondern nur das Ergebnis, der Orakelspruch war ihnen wichtig.«
    Karen nickte. »Genau deswegen bin ich hier. Mr. Artois gab mir den Hinweis, dass in Ihrer Nationalbibliothek ein Buch ist, das für mich interessant sei.«
    Laskaridis lächelte amüsiert. »Nur ein Buch? Ich bin entsetzt. Das hat er sicherlich nicht ernst gemeint. Aber Sie haben Recht, auch mir gegenüber hat er nur ein Buch erwähnt. Er konnte mir leider keinen Titel nennen, sondern bat, dass Sie in der Bibliothek freien Zugang auf … äh … tja, alles bekämen, was Sie interessieren würde. Eine Bitte, die wir unseren Freunden aus Frankreich natürlich nach all den jahre langen Zuwendungen und der fachlichen Unterstützung für die vergangenen und derzeitigen Ausgrabungen nicht verwehren können.«
    Karen spürte, dass der Professor ihr diese Freigabe nur ungern gewährte, aber sie merkte auch, dass er keine andere Wahl hatte.
    »Sie müssen wissen, die École Française hilft uns, wo sie nur kann«, fügte er geflissentlich, aber ohne Pathos hinzu. »Ohne deren Unterstützung gäbe es zurzeit keine Ausgrabungen in Griechenland. Unsere Budgets genügen allenfalls, um die vorhandenen Artefakte zu restaurieren und zu konservieren.«
    »Und trotzdem wird in Delphi gegraben.«
    »Ja, eine glückliche Ausnahme. Das wiederentdeckte Brunnenbecken ist wirklich eine kleine Sensation in diesem Frühjahr. Und es sollen schon interessante Tongefäße geborgen worden sein. Wir hier in Athen sind sehr auf die Ergebnisse gespannt.«
    Karen schaute bedeutungsvoll auf eine alte Standuhr hinter Laskaridis. »Ja, die Ausgrabung ist spannend, aber ich denke, dass ich jetzt doch lieber in die Nationalbibliothek gehen sollte. Wissen die Angestellten dort Bescheid, oder benötige ich einen Leserausweis?«
    Laskaridis sprang auf und eilte zu seinem Schreibtisch. Er öffnete die oberste Schublade und nahm ein Kärtchen mit griechischen Schriftzeichen heraus. »Ich habe Ihren Leserausweis bereits erstellen lassen. Hier ist er.« Er reichte ihn ihr. »Der sollte eigentlich genügen, um Bücher ausleihen zu dürfen. Falls nicht, schreibe ich Ihnen meine Telefonnummer auf die Rückseite. Der Angestellte soll sich sonst bei mir melden.«
    Er nahm das Kärtchen zurück und notierte eine kurze Durchwahl darauf.
    »Vielen Dank.« Karen war ehrlich dankbar und steckte die Karte in ihren Rucksack. Dann verabschiedete sie sich von Prof. Laskaridis und marschierte über die Straße zur Nationalbibliothek, die ebenfalls im neoklassizistischen Stil gebaut war und deren weitgeschwungene Marmortreppe zu dorischen Säulen hinaufführte. Sie ging durch den Eingang, zeigte ihren Leserausweis vor und durfte nach einem kurzen Nicken der Empfangsdame in die große Lesehalle eintreten, in der einige Studenten und drei grauhaarige Männer an dunklen Holztischen tief in ihre Lektüre versunken saßen. Ein sanfter Schein fiel von oben durch das milchige Glasdach in die Halle und tauchte den von ionischen Säulen umrahmten Raum in ein ruhiges Licht. Leise drehten sich große dreiflüglige Deckenventilatoren, doch brachten sie nicht viel Kühlung für

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