Der zerbrochene Kelch
ihren Augen war ein kilometerlanges Meer aus silbergrünen Olivenbäumen, das sich dunkel von den graubraunen Bergen des Parnass abhob und wie eine breite Lavamasse von der Amphissa-Höhe hinunter zur Bucht zu fließen schien.
»Ist es nicht schön hier?«, fragte Eliadis wieder, sog dabei die frische Luft ein und schaute stolz ins Tal hinunter.
»Ja, es ist wirklich wunderschön«, antwortete Karen, während sie die kilometerweite Aussicht vom Meer bis ins Landesinnere nach Amphissa genoss. Sie blieben einige Minuten lang stehen, nahmen einen Schluck aus ihren Wasserflaschen und gingen dann weiter.
Karen war steile Bergwege nicht gewohnt und starrte den Rhodini-Felsen hinauf. Zurück nach Delphi wollte sie wegen ihrer Höhenangst lieber nicht schauen. »Wie hoch liegt die Grotte eigentlich?«
»Na ja, Delphi liegt ungefähr sechshundert Meter über dem Meeresspiegel und die Grotte noch mal achthundert Meter darüber. Also eintausendvierhundert bis eintausendfünfhundert Meter würde ich schätzen. Es wird ein ordentlicher Spaziergang werden. Drei Stunden hin und drei zurück. Aber wir können nachher, wenn wir das Hochplateau erreichen, eine längere Pause machen, in Ordnung?«
»Ja, ich komm schon klar, keine Angst«, sagte sie, um sich selbst zu beruhigen, denn der schmale Weg, auf dem sie gerade gingen und der nur drei Meter bis zur Kante breit war, machte ihr Schwierigkeiten, sodass sie für einen kurzen Moment stehen blieb und sich gegen den Felsen lehnte. Sie schloss die Augen, ihr war schwindlig, doch sie wollte unbedingt gegen ihre Höhenangst ankämpfen. Irgendwann musste sie sie doch besiegen.
Karen atmete einmal tief durch, öffnete wieder die Augen und fixierte den Blick auf Eliadis’ Rucksack vor sich, damit sie nicht wieder zur nahen Kante sah. Zum Glück hatte er nichts von ihrer kurzen Schwäche gemerkt, sondern war weiter den Weg hinaufgestiegen, und Karen konnte ihn problemlos einholen.
Die Bäume wurden jetzt immer weniger, je höher sie kamen, nur manchmal standen noch merkwürdig verdrehte und verkrüppelte Kiefern am Wegesrand.
Eliadis deutete auf eines dieser Unikate, das in der Mitte einen Zweig verloren hatte und dessen Astgabeln sich im Laufe der Zeit verformt hatten. »In diesen verkrüppelten Kiefern erblickten meine Vorfahren manchmal Gesichter böser Naturgeister. Sie gingen diesen Weg zur Grotte nur zu bestimmten Anlässen hoch, und nur dann, wenn es unbedingt nötig war. Ansonsten hatten sie zu viel Angst.«
Karen betrachtete die Kiefer und konnte mit etwas Fantasie wirklich zwei schmale Augen, eine verknorpelte Nase und einen kleinen Mund erkennen, der ihr hämisch zuzulächeln schien. Die Fratze hatte nur ein Ohr und war mit einer langen Bartflechte überwachsen, was im Halbschatten einer untergehenden Sonne wahrscheinlich wirklich unheimlich ausgesehen hätte, aber jetzt am helllichten Tag hatten die krummen Kiefern all ihren dunklen Zauber verloren.
Eliadis und Karen gingen weiter den Berg hinauf, bis sich vor ihnen das Hochplateau erstreckte und Karen ein großes Wildblumenfeld und in weiter Entfernung einige Kornfelder erblickte, die von einer hohen Bergkette umschlungen waren. Sie machte einige Schritte in das Blütenmeer hinein, pflückte eine Blüte vom wilden Lavendel und genoss den frischen Duft, während um sie herum Bienen und Hummeln summten und emsig von einer Blüte zur nächsten flogen.
Eliadis streckte sich und atmete einmal tief durch.
»Sie sind genau zur richtigen Zeit nach Delphi gekommen, Karen. Diesen Anblick gibt es nur jetzt zu dieser Jahreszeit. In zwei Wochen ist das alles wieder vorbei. Sollen wir eine Pause machen und etwas essen?«
»Ja, gern.«
Sie setzten sich auf eine breite Steinreihe, die wie ein kleiner Altar zwischen einem Meer aus roten Klatschmohnblüten stand, und breiteten die mitgebrachten Oliven, gefüllten Weinblätter, den Schafskäse und Kefthédes aus.
Eliadis griff als Erstes nach einem der Kefthédes-Fleischbällchen und nahm danach eine schwarze Olive, Karen ließ sich ein mit Féta gefülltes Weinblatt schmecken. Sie genoss den herben Geschmack des Weinblatts und des frischen Schafskäses, während von weitem das einsame Läuten von Ziegenglocken zu hören war.
Tatsächlich schaute wenig später eine neugierige braune Ziege mit gebogenen Hörnern und einer Blesse auf der Nase von einem nahen Felsvorsprung auf sie hinunter, doch sie ließ sich nicht durch Karens mitgebrachten Apfel anlocken. Die Ziegen der Hochebene
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