Der zerbrochene Kelch
schwingen und nach Delphi fahren und ihm eine Kugel zwischen die Augen jagen? Wahrscheinlich schon. Delvaux wusste, dass die Griechen bei Ehebruch keinen Spaß verstanden. Aber Gianna ist jede Gefahr wert, dachte er, während er über den Hinterhof zur Straße zurückging.
26
Im Athener Plaza Hotel saß Myles Fenton auf der Sonnenterrasse und aß beim Zeitungslesen ein Pfefferminzeis, während eine angezündete Zigarette neben ihm im Aschenbecher vor sich hin glimmte. Sein anthrazitfarbenes Jackett hatte er heute in der Suite gelassen, aber sein gleichfarbenes Hemd machte ihm bei der Hitze zu schaffen, obwohl er unter einem weißen Leinensonnenschirm mit goldenem Mäandermuster Platz genommen hatte. Athen war ihm einfach zu heiß. Wie hatte Lord Durnham ihm das nur antun können?
Fenton legte die Le Monde neben die Times auf den Tisch, als ihm plötzlich ein kleiner Artikel auffiel. Er nahm die Zeitung noch mal in die Hand und las den Artikel, in dem ein Kommissar Laurent aus Paris den Ausbruch des Häftlings Lucass mit bitteren Worten kommentierte.
Fenton schmunzelte, als er die Zeitung erneut beiseite legte. Soso, der liebe Lucass ist wieder frei, dachte er. Eigentlich hätte ihn diese Nachricht beunruhigen sollen, denn seitdem eines der Geschäfte, die sie im letzten Jahr zusammen gemacht hatten, schief gelaufen war, waren er und Lucass bis auf den Tod verfeindet. Aber Fenton hatte keine Angst vor seinen Feinden. Vor niemandem.
Er ließ gerade etwas Pfefferminz eis auf der Zunge zergehen, als ein Hotelpage leise an ihn herantrat und ihm respektvoll ein verschlossenes Kuvert überreichte und dann wieder verschwand. Auf dem Kuvert stand nur sein Name, aber Fenton war darüber nicht überrascht. Ganz im Gegenteil, auf diese Nachricht von Rigby hatte er schon den ganzen Tag gewartet.
Ohne Eile öffnete er den Brief und las die wenigen Worte. »Er liefert in drei Tagen. Hier in Athen.«
Mit einem eisigen Lächeln faltete Fenton die Notiz zu einem kleinen Karo zusammen und steckte es in seine Brusttasche.
»Das will ich dir auch raten, Bürschchen«, murmelte er. »Sonst müssen wir vielleicht doch noch schwerere Geschütze auffahren.«
27
Nachdem Karen die Mittagshitze gemütlich in dem kleinen Kafenio verbracht hatte, machte sie sich zu ihrer letzten Etappe auf und ging in Richtung Süden, um auf dem alten Athener Friedhof nach den Gräbern von Schliemann und Otfried Müller zu suchen. Doch sie fand Müllers Grab nicht, und auch ein Friedhofsangestellter, den sie auf Englisch fragte, konnte ihr nicht weiterhelfen. Dafür war das Mausoleum von Heinrich Schliemann un übersehbar.
Es thronte von Palmen umgeben auf einer kleinen Anhöhe hinter der Kapelle, von der aus er und seine griechische Frau Sophia für immer einen Blick auf die Akropolis hatten. Er hatte sich einen kleinen neoklassizistischen Tempel bauen lassen, vor dessen Stirnseite eine große Kopfbüste Schliemanns platziert war, die dem Besucher von oben herab mit ernstem und prüfendem Blick entgegensah und abzuschätzen schien, ob man auch würdig genug war, diesen Ort zu betreten.
Hier lag er also – Heinrich Schliemann. Der Mann, der Homers Ilias auswendig konnte und durch dessen Angaben das alte Troja in der Nähe der Dardanellen in der Türkei wiedergefunden hatte. Ein Mann, dessen Ausgrabungen die griechische Kultur wiedererweckt hatten und dessen Exponate Karen vor wenigen Stunden im Archäologischen Museum gesehen hatte.
Es war wunderbar, den Dingen, die sie als Kind und Jugendliche in den Geschichtsbüchern so sehr fasziniert hatten, nun in der Realität zu begegnen. Nachdenklich schaute sie zu Schliemanns Büste hinauf und nickte ihm als letzten Gruß zu, ehe sie sich umdrehte und den Hauptgang zum Ausgang des Friedhofs zurückging.
Schliemanns Haus in der Panepistimiou-Straße hatte sie zwar nicht gesehen, aber sie hatte jetzt keine Lust mehr, mit der Metro dort noch mal hinzufahren. Ein Foto in ihrem Stadtführer zeigte ein palastähnliches Gebäude, in dem sich heute das Numismatische Museum befand.
Karen runzelte die Stirn, als sie das las. Ein Münzen-Museum? Ob Schliemann das wohl gefallen hätte? Doch dann musste sie daran denken, dass dort sicher auch Münzen mit Schliemanns Konterfei lagen, und das hätte dem narzisstischen Archäologen sicherlich gefallen.
Sie kaufte sich noch ein Eis an einem mit Zeitungen voll bepackten Periptero, und nach einem Blick auf die Uhr, die an dem Kiosk angebracht war, machte sie sich langsam
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