Der zerbrochene Kelch
waren fast wild und hielten sich von fremden Menschen fern. So verschwand auch der tierische Besucher bald wieder hinter einem Felsen, und nur das leise Läuten seiner Halsbandglocke zeigte, dass er überhaupt existiert hatte und nicht ein Trugbild auf diesem alten Götterberg gewesen war.
Karens Blick schweifte über windschiefe Kiefern bis zu den Berggipfeln am Ende des Plateaus und blieb an ein paar Vögeln hängen, die über ihnen am Himmel schwebten.
»Sie wollten mir doch noch delphische Legenden erzählen, Nikos. Welche ist Ihre Lieblingslegende?«
Eliadis sah sie einen langen Moment an und wollte etwas sagen, doch dann zögerte er und schien sich plötzlich für eine andere Legende zu entscheiden.
»Es ist die vom Lydierkönig Krösus.«
Karen nickte. »Die, in der das Orakel ihm sagte, dass er ein großes Reich zerstören würde, wenn er den Fluss Halys überschreite?«
»Ja, aber das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte. Krösus’ Verhängnis fing schon viel früher an, bei seinem Vorfahren Gyges.«
»Wieso? Was hatte Gyges denn getan?«
»König Kandaules glaubte die schönste Frau der Welt zu besitzen und wollte sich das von seinem Waffenträger Gyges bestätigen lassen. Er nahm den Mann mit in sein Schlafgemach, wo dieser die nackte Königin sah. Die Königin fühlte sich durch den Blick des Waffenträgers entehrt und stellte ihn vor die Wahl, entweder ihren Gatten zu töten, die Herrschaft zu ergreifen und sie zu heiraten oder zu sterben. Gyges entschied sich natürlich für sein Leben, Königreich und Königin, worüber das Volk der Lydier entsetzt war und eine Delegation nach Delphi schickte. Sie wussten nicht, ob sie den Königsmörder bestrafen oder ihn als neuen König annehmen sollten.
Die Pythia gab den Rat, Gyges als neuen Herrscher anzuerkennen, da der Nachkomme der fünften Generation für Gyges’ Mord büßen und dem ursprünglichen Königsgeschlecht des Kandaules dann Gerechtigkeit widerfahren würde. Den Schluss des Spruches verstand natürlich niemand, aber die Lydier hielten sich an den Ratschlag und nahmen Gyges als neuen König an.
Hundert Jahre später wurde der Rest des Orakelspruchs dann wahr, als Krösus König von Lydien war und die Perser sein Reich bedrängten. Er wollte wissen, wann und wie er sich gegen den Feind wehren sollte, und um den bestmöglichen göttlichen Rat zu bekommen, beschloss er, die bekanntesten Orakel der damaligen Zeit zu prüfen, und schickte sieben Boten nach Didyma, Dodona und sogar bis nach Ägypten zum Orakel von Siwa. Jeder Gesandte sollte am hundertsten Tag nach der Abreise das Orakel befragen, was Krösus gerade tue.
Seine Leute reisten ab, und als sie wiederkamen, stellte sich heraus, dass die Antwort aus Delphi am genauesten war, denn sie lautete:
›Wohl weiß ich, wie viel Sand am Meer,
wie die Weite des Wassers,
selbst den Stummen vernehm ich
und höre des Schweigenden Worte.
In die Sinne dringt mir der Geruch
der gepanzerten Kröte,
wie man sie kocht
zusammen mit Lammfleisch in eherner Pfanne.
Erz umschließt sie von unten,
wie Erz auch darübergezogen.‹«
Karen hatte ein gefülltes Weinblatt zwischen den Fingern, aber sie vergaß zu essen, während Eliadis erzählte. »Sie kennen die Sprüche auswendig?«
»Nicht alle, aber die, die mir am wichtigsten sind. Außerdem erzähle ich diese Geschichte auch gern, wenn die Touristen im Museum danach fragen. Es gibt so schrecklich viele Menschen, die Delphi besuchen, aber keine Ahnung von den Orakelsprüchen haben. Ich bin froh, wenn sich einige für mehr interessieren, als nur drei Stunden lang durch Tempelruinen zu gehen und sich einige Vasen und Fresken im Museum anzugucken.«
»Bitte erzählen Sie weiter, Nikos.«
»Für Krösus war der Spruch aus Delphi jedenfalls am genauesten, denn er hatte an dem Tag eine Schildkröte und ein Lamm geschlachtet und sie beide in einem Bronzekessel mit Deckel gekocht.«
»Eine ungewöhnliche Zusammenstellung.«
Eliadis nickte. »Natürlich. Er wollte an dem Tag etwas kochen, was niemand vorhersagen konnte. Und Lamm und Schildkröte … niemand würde so etwas essen. Er schickte also nochmals Boten nach Delphi, um jetzt die wichtige Kriegsfrage zu stellen, und sie kamen mit dem verhängnisvollen Spruch zurück, dass er ein Reich zerstören würde, wenn er den Halys überschreite. Krösus fand sich auf der Siegesstraße, führte seine Lydier gegen die Perser, doch sie unterlagen, und die Perser nahmen Krösus gefangen und eroberten
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