Der zerbrochene Kelch
hereinscheinenden Sonne glänzen. »Dieser Ring und sein Hut waren alles, was von ihm übrig geblieben ist und was nicht von den Felsen verschüttet wurde. Mein Vater hat ihn mir geschenkt, als ich noch ein Kind war. Seitdem halte ich ihn in Ehren und habe ihn nach Delphi zurückgebracht. Ich hoffe, dass er für mich hier kein böses Omen ist.«
Karen hatte bei dem Gedanken kein gutes Gefühl. »Vielleicht sollten Sie den Ring lieber Ihrem Vorfahr zurückgeben, ihn auf den Felsen neben das Kreuz legen«, schlug sie vor, doch Delvaux verzog das Gesicht.
»Meinen Sie? Was glauben Sie, wie lange er dort liegen bleiben würde? Er ist immerhin einige Euro wert und über hundert Jahre alt. Nein, wahrscheinlich würden Yannis und seine Freunde oder andere Dorfbewohner ihn wegnehmen und zu Geld machen. Dann trage ich ihn doch lieber an meinem Finger.«
Unbewusst lehnte Karen sich auf dem alten Sofa zurück, als würde sie sich so weit wie möglich von dem Ring zu entfernen versuchen. Delvaux bemerkte es nicht und sprach weiter.
»Mein Ururgroßvater hat mir sehr geholfen.« Er schlug mit der rechten Hand auf einige lose Papierseiten, die neben dem Fotoalbum lagen. »Ohne seine Notizen hätten wir das alte Brunnenbecken niemals gefunden.«
»Konnten Sie sie denn lesen?«
»Ja, natürlich, warum denn nicht? Seine Handschrift war zum Glück ganz passabel.« Doch anstatt ihr die Notizen zu zeigen, deutete er auf ein vergilbtes Foto, auf dem Androuet neben einem gemauerten Brunnenbecken kniete, stolz eine halbe Kylix in die Luft hielt und in die Kamera lächelte.
Karen durchlief ein kalter Schauer. »Sie ähneln Ihrem Ururgroßvater sehr. Nicht unbedingt, was die Statur, aber was Ihre Mimik und Ihr Lächeln betrifft.«
Delvaux blickte auf das Foto. »Merkwürdig, meine Mutter hat das auch immer gesagt, aber diese Ähnlichkeit schien ihr nicht zu gefallen. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn ich mehr von ihrer Familie geerbt hätte. Von der Archäologie versuchte sie mich immer abzubringen, aber ich habe schon als kleiner Junge gern im Sandkasten gewühlt und ihr jeden kleinen Quarzstein als Edelstein verkauft und dann in mein Sammelglas getan. Ich glaube, ich habe davon noch zwanzig Gläser zu Hause rumstehen.« Er grinste verträumt. »Meine Mutter hat dann einige weggenommen und den Inhalt wieder im Garten verstreut, aber dafür habe ich am Wassergraben neben unserem Haus weitergebuddelt und neue Steine gefunden. Meine Mutter resignierte dann irgendwann, und ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Erst später verstand ich, dass sie Angst hatte, dass ich Androuets Schicksal teilen könnte. Mütterängste«, tat Delvaux es mit einem Schulterzucken ab, ehe er das Album auf die Notizen legte, als ob er sie damit vor Karens neugierigen Blick schützen könnte.
»Sie wollten doch noch die Pythonhöhle besuchen, oder nicht?«, fragte er unvermittelt, als ob es ihm plötzlich unangenehm wäre, ihr so viel von seinen Geheimnissen preisgegeben zu haben.
Karen zuckte bei dieser unerwarteten Frage instinktiv zurück. »Die Pythonhöhle? Wie kommen Sie darauf? Nein, die interessiert mich eigentlich nicht so sehr.«
»Aber das ist ein großer Fehler. Wenn Sie die Korykische Grotte gesehen haben, müssen Sie auch die Pythonhöhle besichtigen, sonst wird Ihr Buch über Delphi niemals vollständig sein.«
»Aber ich …«
»Haben Sie Bedenken, mit mir allein in die Felsen zu gehen? Hat Nikos vielleicht irgendetwas Negatives über mich gesagt?«
Karen schüttelte den Kopf. »Nein, das hat er nicht. Es ist nur … Ich bin gestern mit ihm zur Korykischen Grotte gegangen und wäre beinahe in die Schlucht gestürzt, weil ich ihm nicht gesagt habe, dass ich unter Höhenangst leide.«
Delvaux hob eine Augenbraue. »Sie sind mit Nikos in die Berge gegangen, ohne ihm das vorher zu sagen?«
»Na ja, es mag verrückt klingen, aber ich wollte meine Phobie überwinden und ausprobieren, ob ich es den Berg hinauf schaffe. Aber es hat leider nicht geklappt.«
»Ich glaube, das sehen Sie ein bisschen zu kritisch. Immerhin waren Sie, wenn ich es richtig verstanden habe, schon wieder auf dem Rückweg, oder? Das ist doch schon ein großer Erfolg. Wollen Sie nicht daran weiterarbeiten und mit mir zusammen zur Pythonhöhle gehen? Der Weg ist wirklich nicht gefährlich. Er ist sehr breit und weit entfernt von jeder Bergkante. Ich schwöre es.«
Karen schmunzelte über seinen theatralischen Schwur. »Eigentlich wollte ich heute in Ihrem
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