Der zerbrochene Kelch
waren von Weitem Wassertropfen zu hören, die gleichmäßig durch den Felsen sickerten und zu Boden fielen, doch diesmal roch es auch nach Ziegenkot.
Delvaux sah, wie Karen sich an die kitzelnde Nase fasste, und leuchtete dann mit der Taschenlampe um sich herum. »Ja, die Höhle wurde nicht nur von Menschen genutzt, aber der Gestank ist noch auszuhalten, oder? Ich verspreche Ihnen auch, dass wir gleich eine Kalzitwand und einige wunderschöne Excentriques sehen werden.«
»Excentriques? Was sind das?«
»Hier.« Er deutete auf einige schmale Kristallröhren, die sich in alle Richtungen nach oben schlängelten. »Das Wasser steigt durch einen Kapillareffekt langsam durch die Röhren des Kristalls nach oben und lagert sich dann an der Spitze ab. Ist das nicht fantastisch?«
Karen betrachtete die zerbrechlichen Gebilde und wollte gerade einen der schmalen Kristallfinger berühren, als er plötzlich abbrach. Gleichzeitig ging ein tiefes Grollen durch die Höhle, und kleine Felsbrocken und Stalaktiten fielen auf sie herab.
»Verdammt, was geht hier vor?«, fluchte Delvaux, als der Boden unter ihren Füßen zu beben begann und die Felsen sich ächzend zur Seite bewegten. »Ein Erdbeben! Schnell! Raus hier!«
Er schob Karen den schmalen Weg entlang, den sie hereingekommen waren, doch sie waren noch keine zwanzig Meter weit gekommen, als ein riesiger Felssturz den Weg versperrte. Karen war entsetzt, doch plötzlich blitzte in ihr eine Erinnerung auf.
»Wir müssen zurück!«, schrie sie.
»Was? Zurück in die Höhle? Sind Sie verrückt geworden?«
»Nein! Dort hinten geht links ein Weg ab! Er ist gefährlich, aber unsere einzige Chance!« Diesmal war es Karen, die Delvaux zurückdrängte und in den Nebengang schob. Sie überholte ihn, gejagt von dem tiefen Grollen des Berges. Überall fielen große und kleine Steine herunter. Oft mussten sie sich ducken oder wurden von den Felsstücken getroffen, aber sie rafften sich immer wieder auf.
»Ich hoffe Sie wissen, was Sie tun!«, schrie Delvaux über das laute Knirschen der aneinanderreibenden Gesteinsschichten hinweg. »Sie führen uns immer tiefer in den Felsen hinein!«
»Ja, ich weiß, aber es geht nicht anders. Achtung! Passen Sie auf, hier sind gefährliche Felsspalten!«
Delvaux sah, wie Karen kreuz und quer durch den Gang hüpfte, um jeweils auf den festen Felsabschnitten zu landen.
»Woher kennen Sie diesen verdammten Gang?«, schrie er, während er versuchte hinter ihr zu bleiben.
»Kommen Sie! Hier oben ist der Ausgang. Wir sind gleich da.«
Tatsächlich sahen sie keine zehn Meter von sich entfernt einen hellen Lichtschimmer durch den schwarzgrauen Staub. Eine schmale Felsspalte in die Freiheit.
»Laufen Sie!«, schrie Delvaux und folgte ihr, doch kurz vor dem Erreichen des Ausgangs sah er, wie sich über Karen ein großer Felsblock löste und auf sie niederzustürzen drohte.
»Achtung!«
Mit einem riesigen Satz warf Delvaux sich auf Karen und drückte sie nieder. Fast gleichzeitig spürte er einen grausamen Schmerz in seinem Rücken, der ihm den Atem nahm.
Karen fühlte einen Stoß, stolperte und drehte sich im Fallen, sodass sie hart mit dem Rücken aufschlug. Ein kleines spitzes Felsstück bohrte sich in ihre rechte Schulter, aber der Schmerz war nur kurz. Was war geschehen? Sie konnte sich nicht bewegen. Nicht einen Millimeter. Und nichts erkennen, doch allmählich verzog sich der graue Staub, und sie sah, dass Delvaux auf ihr lag. Ein großer Felsblock ragte überdimensional und gefährlich über seinem Kopf hervor.
Delvaux rührte sich nicht.
»Simon? Simon! Sag etwas!”
Aber er antwortete nicht. Stattdessen lief ein schmales Blutrinnsal seine Schläfe entlang und bildete eine Lache auf Karens linker Schulter.
34
»Simon!«, krächzte Karen, während ein Schluchzen durch ihren Körper bebte, als sie befürchtete, dass er tot sei. Doch dann erlöste sie ein tiefes röchelndes Husten von ihrer Angst, und Delvaux’ Gesicht tauchte aus den Tiefen seiner verdreckten Haare hervor.
»Bist du okay, Simon?«
Delvaux bewegte seinen Kopf. Eine kleine Staubwolke flog Karen entgegen, als er seine Haare schüttelte und Steinchen und Sand auf sie niederrieselten. Prustend schloss sie die Augen.
»Es geht mir prächtig«, log Delvaux ächzend. Er konnte kaum atmen. Eine Felsspitze bohrte sich im Rücken in seine Rippen. Er ließ den Kopf auf Karens Brust fallen und atmete schwer. Ihr Parfum, das nach Jasmin und Ylang-Ylang roch, belebte ihn, aber die
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