Der zerbrochene Kelch
erahnen, wie aufwändig es für die damalige Zeit war, diesen Tempel zu bauen.«
Karen sah fasziniert auf das Foto mit den alten Steinen, von denen einige T-förmig und andere einfache Quader in verschiedenen Größen waren. Manche hatten zur Verstärkung der Mauerkonstruktion Vertiefungen an den Seiten, während andere dort steinerne Ausbuchtungen hatten. Wenn man sie zusammenfügte, ergab das eine einfache und effektive Stabilität der Mauer, aber wie viele Stunden oder Tage hatte der Steinmetz allein nur für diese Verknüpfungselemente benötigt? Karen war immer wieder beeindruckt von dem Können der Menschen in der Antike. Egal, ob es die wunderbar detaillierten Reliefdarstellungen in Ägypten gewesen waren oder wie hier genau behauene Steine für eine Tempelmauer. Die Akribie, mit der die damaligen Menschen diese Werke schufen, versetzte sie stets aufs Neue in Erstaunen.
Delvaux beobachtete Karen von der Seite und lächelte amüsiert über ihre Faszination. Noch nie hatte er eine Frau getroffen, die sich so sehr für alte Steine und Ruinen interessierte. Außer natürlich seine Archäologie-Kommilitoninnen und seine Kolleginnen, wenn er denn mal welche hatte. Aber weibliche Privatpersonen waren sonst eigentlich eher an ihm direkt als Forschungsobjekt interessiert anstatt an seinen Fotos. Er blätterte weiter und zeigte auf ein Foto mit einem unbekleideten marmornen Jüngling.
»Antinoos, der Günstling eines Römers, dem er nach dessen Tod so sehr nachweinte, dass er ihm mehrere Statuen widmete. Es ist also nur ein spätes Werk aus der römischen Zeit um 130 n. Chr.«
Das Foto zeigte eine Gruppe griechischer Hilfsarbeiter vor einer großen Wand aus Steingeröll, vor der ein weißer Körper aus einem Loch emporschaute. Mit ehrfürchtig gesenkten Köpfen betrachteten die Arbeiter das edle Antlitz des Jünglings.
»Die Statue wurde am 13. 07. 1893 entdeckt.« Er zeigte auf die kurze Notiz unter dem Foto, ehe er auf der gegenüberliegenden Seite auf ein Bild deutete, auf dem einige Säulen aus einer Mauer hervorragten. »Na, erkennen Sie sie wieder?«
Karen traute ihren Augen nicht. »Aber … das ist ja die Halle der Athener vor der Polygonalmauer.«
»Na ja, nicht ganz, denn das, was Sie sehen, ist ein Ziegenstall, der auf dem Grundriss der Halle der Athener gebaut wurde. Sehen Sie diese Säulen dort an der Frontseite? Es sind dieselben Säulen, die man heute noch bewundern kann. Man hatte sie einfach in ein provisorisches Mauerwerk integriert und einen Ziegenunterschlupf daraus gebaut. Praktisch, nicht wahr?«
»Wie schrecklich«, stieß Karen empört hervor. »Aus einer göttlichen Weihhalle wurde ein Ziegenstall?«
Delvaux’ Mundwinkel zuckten verräterisch, als er sich über Karens Empörung amüsierte. »Richtig. Jede Zeit hat ihre eigenen Bedürfnisse, und da Kastris Bewohner einen Ziegenstall brauchten, nahmen sie die große Polygonalmauer als Rückwand, bauten drei einfache Wände drumherum, und schon hatten sie einen prächtigen Stall. Sie wussten ja nicht, dass die Säulen ursprünglich zur Athener Weihhalle in Delphi gehörten. Sie wussten ja nicht einmal, dass sie über den Ruinen des antiken Delphi wohnten.
Hier, sehen Sie dieses Gruppenbild? Dorfbewohner und Archäologen in friedlicher Eintracht.«
Delvaux zeigte ein Bild mit mehreren Männern unter einer Platane. Im Hintergrund des verblichenen Fotos stand eine Reihe westeuropäisch gekleideter Männer in groben Jacketts und mit Hüten, während vorn zwei Griechen in der Fustanella, einem traditionellen weißen Männerrock, saßen und so taten, als würden sie die Laute spielen. Es war ein gestelltes Foto, denn die Männer blickten sehr ernst und bewusst in die Kamera, aber vielleicht wurde ihr Lächeln auch nur von ihren Schnauzern und Bärten verdeckt.
»Der dritte Mann von links ist mein Ururgroßvater Androuet«, erklärte Delvaux und deutete mit dem rechten Zeigefinger auf einen Mann mit hoher Stirnglatze, der als Einziger offen in die Kamera lächelte. »Es zeigt ihn drei Tage vor seinem Tod.«
Karen betrachtete das Foto etwas genauer und erstarrte, als sie Androuets rechte Hand auf der Schulter eines anderen Mannes ruhen sah und ein kleines Detail ihre Aufmerksamkeit erregte.
»Dieser Ring …« Sie sah auf Delvaux’ rechte Hand, von der ihr der breite Silberring mit dem Mäandermuster entgegenleuchtete. »Sie tragen denselben Ring wie Ihr Ururgroßvater?«
Delvaux hob die rechte Hand und ließ den Ring im Licht der
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