Der zerbrochene Kelch
goldenen Fund gehofft wie die königlichen Totenmasken von Mykene. Es ist zwar eine hübsche Bronzeplastik, aber auch dieses Kunstwerk haben die alten Griechen als Bauschutt im nördlichen Teil der Tempelterrasse verscharrt. Zu unserem Glück, zugegebenermaßen, denn sonst wäre sie wie so viele andere Weihgeschenke vielleicht auch in einer Esse in Rom gelandet.«
Karen lief bei dem Gedanken an die eingeschmolzenen und für immer verlorenen Weihgeschenke ein Schauer über den Rücken.
»Erinnern Sie sich noch an das Adyton im Apollon-Tempel?«, fragte Delvaux und deutete auf ein Foto, das eine Mauerecke mit mehreren behauenen Steinschichten zeigte. »Auf diesem Foto sieht man sehr genau, dass es innerhalb des Tempels eine verdächtige Vertiefung gab.«
Karen musste ihm Recht geben, denn unter der Mauerecke brachen die Steine heraus, und es öffnete sich ein tiefes, dunkles Loch unterhalb des Tempelbodens.
»Da der Tempel auf einer künstlich geschaffenen Terrasse stand, halte ich es für absolut möglich, dass sich unterhalb des Adytons ein kleiner Raum befand, in dem ein Feuer mit stimulierenden Zutaten am Brennen gehalten wurde. Der Rauch wurde nach oben geleitet und durch den Omphalos zur Pythia ins Adyton.«
»Wo sie dann inspiriert Apollons Rat sprach.« Karen betrachtete verblüfft das alte Foto mit dem dunklen Loch innerhalb des Tempels. »Aber warum sieht man das Loch heute nicht mehr? Warum wurde es wieder zugeschüttet, anstatt dort weitere Untersuchungen zu machen? So eine Kammer unterhalb des Adytons ist doch eigentlich eine Sensation und ein wichtiges Forschungsobjekt.«
Delvaux schüttelte leicht den Kopf. »Nein, für so etwas hat man kein Geld. Für marmorne Statuen, goldene Masken oder Gefäße, ja. Aber wen interessiert schon der Beweis eines Ritus? Die Museen und Finanziers wollen Ergebnisse sehen, und zwar materielle Ergebnisse, die man in Museen ausstellen kann – Vasen, Statuen oder Goldmünzen. Eine Kammer unter dem Adyton ist für uns Archäologen und Historiker interessant und wichtig, aber nicht für die Geldgeber.«
Sie betrachtete sein Gesicht, das auf einmal um Jahre gealtert zu sein schien.
»Sie klingen schrecklich desillusioniert, Simon.«
»Wirklich?« Er seufzte, obwohl er wusste, dass er seine Enttäuschung nicht verbergen konnte. »Es tut mir leid, aber es ist nicht immer einfach, wenn man bei seinen Ausgrabungen von fremden Geldgebern abhängig ist. Es gibt in Griechenland einfach zu viele archäologische Schauplätze, die kulturell wichtig sind, und leider ist nur so wenig Geld vorhanden. Hier in Delphi haben wir diesmal Glück. Athen und die École Française stehen finanziell für eine Grabungskampagne hinter uns, aber ich habe es leider schon zu oft erlebt, dass wir eine Grabung aus Geldmangel abbrechen mussten. Das ist wissenschaftlich inakzeptabel und für mich persönlich immer äußerst schmerzhaft.«
Er blätterte schnell in dem Album weiter, um nicht an seine bisherigen Niederlagen erinnert zu werden, bei denen diverse Tonvasen und Gebeine in der Erde oder im Sand verscharrt geblieben waren, da er sie nicht hatte bergen können. Sie waren für immer zerstört. Er hatte sie nicht retten können. Er hatte versagt. So oft. Tonvasen, die mehrere tausend Jahre überstanden hatten, nur um jetzt an Geldknappheit und der Engstirnigkeit einiger geldverwaltender Regierungsbeamter für immer zu Staub zu verfallen. Der Gedanke war für ihn unerträglich.
Karen bemerkte, wie sich Delvaux’ Finger um die alten Seiten des Albums verkrampften, während er scheinbar nach einem bestimmten Foto suchte.
»Jeder Verlust ist ein Verlust für die Menschheit, nicht wahr?«, flüsterte sie und griff nach einer Seite, die Delvaux beinahe überblättert hätte.
Er starrte auf ein weiteres Foto des Adytons. »Sehen Sie sich die Steine auf dem Foto an. Das sind sieben Stein-schichten mit behauenem Kalkstein. Wie lange brauchten die Arbeiter damals wohl, um nur einen einzigen Stein herzustellen? Einen Tag? Kollegen aus der angewandten Archäologie haben es mal nachgemacht und nur mit den damaligen Handwerkszeugen die Steine geschnitten und bearbeitet.
Demnach brauchte ein Mann etwa eine Woche, um aus einem Rohling so einen behauenen Stein für den Tempel zu schlagen, der millimetergenau zu den anderen passte. Eine Woche! Und wenn man dann dieses alte Foto sieht, das ja nur sieben Steinschichten zeigt, die die unteren Schichten des Tempelfundaments darstellen, dann kann man vielleicht
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