Der zerbrochene Kelch
bekamen auch Arbeit bei den Archäologen, aber es regte sich massiver Widerstand, sodass es noch Jahrzehnte dauerte, bis die griechische Regierung schließlich nachgab und der Umsiedlung zustimmte. Erst 1892 bekam die École Française die Erlaubnis, hier zu graben, und was sie fanden, sehen Sie nun im Museum.« Delvaux blätterte weiter. »Hier sehen Sie schon, wie das halbe Dorf weg gerissen ist.«
Karen blickte auf ein Foto, auf dem Männer Felsbrocken und Erde auf eine Lore schütteten, die dann über eine schmale Schienenbahn zur Straße geschoben wurde. Oberhalb der Schienen standen noch einige Häuser, während sich hinter ihnen die mächtigen Phädriaden erhoben. Sie erschauerte, als sie sich vorstellte, dass diese Häuserreihe ungefähr dort gestanden hatte, wo heute die Ruine der Lesche der Knidier und die der Attalos-Halle waren.
»Jaja«, murmelte Delvaux. »Die berühmten Felsen von Pytho hatten sich das Apollon-Heiligtum wieder einverleibt. So wie die Sphinx der Naxier. Bei der Bergung war sie damals leider in drei Teile zersprungen, und es dauerte einige Zeit, bis man ihren Kopf im Erdreich wiederfand, aber es hat sich gelohnt, oder nicht? Sie haben dieses Prachtstück doch auch im Museum gesehen, oder?«
Karen betrachtete fasziniert das Schwarzweißfoto, das den zerbrochenen Torso der kopflosen Sphinx vor der großen Polygonalmauer zeigte. »Das habe ich. Meine Güte, wenn man dieses Foto sieht, ist sie im Museum ja geradezu wiederauferstanden.«
Delvaux teilte ihre Begeisterung. »Ja, nicht wahr? Sie ist wunderbar filigran. Und hier bergen Androuet und die Helfer gerade Kleobis aus dem Schutt.« Delvaux zeigte auf eine alte Fotografie, in der eine marmorne weiße Statue neben einigen Holzstützbalken aus einem Loch hervorgeholt wurde. Neben der mannshohen Statue standen drei griechische Arbeiter etwas abseits, die das antike Weihgeschenk mit ausdruckslosen Gesichtern musterten. Vielleicht wussten sie nicht, welchen archäologischen Schatz sie gerade entdeckt hatten, oder er war ihnen egal, da die Fremden aus Frankreich ihn wohl sowieso mitnehmen würden. Die Gleichgültigkeit der Arbeiter erschütterte Karen, die allein bei dem Anblick dieser Statue sofort einen erhöhten Puls bekam.
Unter dem Foto stand Androuets Notiz:
»Kleobis, 30. 05. 1893«.
Delvaux strich liebevoll mit dem rechten Zeigefinger über die handschriftliche Notiz seines Ururgroßvaters. »Es ist ein Kuros aus dem 6. Jahrhundert v. Chr.«, erklärte er. »Eine Inschrift sagt uns sogar, dass Polymedes ihn geschaffen hat. Ist das nicht faszinierend, den Künstler mit Namen zu kennen, der vor zweitausendfünfhundert Jahren eine Marmorstatue schuf? Also ich finde es immer wieder spannend, der Vergangenheit den Namen eines Menschen zu entreißen, der wirklich mal existierte.« Delvaux ließ die Seite mit dem Foto lange aufgeschlagen. »Diese Statue müssten Sie eigentlich auch im Museum gesehen haben.«
Karen kaute auf der Unterlippe, während sie die Bergung der Jünglingsstatue betrachtete, deren Füße im Dreck standen und deren schiefer Torso von einigen dünnen Holzbalken abgestützt wurde. Und die griechischen Arbeiter wendeten sich von ihr ab. Oder hatte der Fotograf dies von ihnen gefordert, um ein besseres Bild der Statue zu bekommen? Vielleicht waren die Helfer gar nicht so desinteressiert, wie es den Anschein hatte, sondern man hatte sie einfach nur beiseite befohlen, um ein besseres Foto machen zu können? Wie erniedrigend muss das für die Griechen gewesen sein, dass ein Stück alter Marmor wichtiger war als sie? Zumal dieses Stück Marmor als Bauschutt in der Terrasse verarbeitet worden war?
Karen schluckte einen Kloß hinunter, als sie Kleobis schief im Schutt stehen sah. Welch ein erniedrigender Anblick für so ein perfektes Kunstwerk des Polymedes.
»Nein, diese Statue habe ich nicht gesehen«, sagte sie. »Ich … mir ging es plötzlich nicht so gut, als ich im Museum war. Ich habe nicht alle Räume gesehen. Aber dafür war ich beim Wagenlenker.«
»Der berühmte Wagenlenker …«, seufzte Delvaux. »An dem kommt ja auch kein Delphi-Besucher vorbei.«
Er blätterte im Album einige Seiten weiter, bis er zu einem Foto kam, auf dem mehrere Männer oberhalb eines dunklen Erdlochs standen, aus dem bronzene Füße mit zarten Zehen hervorragten.
»Sehen Sie mal, wie ernst die Männer in die Kamera schauen, als sie diese Bronzeplastik fanden. Ist das nicht verrückt? Aber wahrscheinlich hatten sie eher auf einen
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