Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
nämlich sämtliche Fliegen aus ganz Griechenland herbeigelockt zu haben, und denjenigen möchte ich mal kennenlernen, der noch einen ernsten und würdigen Eindruck machen kann, wenn er inmitten eines dichten Fliegenschwarms nicht einmal mehr sieht, wo er hintritt. Ich habe damals wirklich mein Bestes gegeben, doch zum Schluß war ich gezwungen, wie ein Wilder nach den Fliegen zu schlagen, womit für mich der feierliche Teil erledigt war.
    Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, Teil einer riesigen und sich ständig bewegenden Menschenmenge zu sein, und ich glaube nicht, daß ich vorher schon einmal so viele Menschen an einem Ort versammelt gesehen hatte. Das war nicht wie im Theater, wo die Leute nach und nach eintreffen, sondern vielmehr so, als hätte sich die gesamte Weltbevölkerung auf einem kleinen Fleck zusammengedrängt. Einige dieser Menschen empfanden Trauer, andere wirkten fast ausgelassen, aber die meisten fühlten sich gelangweilt und wünschten sich, wie man leicht nachvollziehen kann, etwas ganz anderes zu tun. Während wir uns dem Friedhof näherten, fiel mir ein, später vor all diese Leute treten zu müssen, um die Rüstung entgegenzunehmen. Bestimmt würde ich mich bis auf die Knochen blamieren, indem mir der Helm herunterfiel oder der Schild wie ein Reifen in die Menge rollte, das konnte ich direkt riechen. Einen Augenblick lang war ich gelähmt vor Angst; schließlich hatte ich genauso viele Hemmungen wie jedes Kind in diesem Alter.
    Endlich war es an der Zeit, daß Perikles seine Rede halten sollte, und die Menschenmenge teilte sich, um ihn nach vorn durchzulassen. Ich sah ihn jetzt zum erstenmal aus der Nähe, und das war ein ziemlicher Schock für mich. Zwar hatte ich ihn mir als einen stattlichen und bedeutend wirkenden Mann vorgestellt, der ein glänzendes Auftreten und eine große Ausstrahlung besaß, aber meine Erwartungen wurden noch bei weitem übertroffen. Von der Würde seiner Persönlichkeit regelrecht geblendet, nahm ich jede kleine Einzelheit dieses großen Feldherrn in mich auf. Er trug eine Rüstung aus polierter Bronze, das wie Gold glänzte, und sein Rücken war so gerade wie eine Säule. An seiner Seite trippelte ein pummeliger kleiner Kerl mit einem eigenartig geformten Kopf und ziemlich dünnen Beinen, den ich für Perikles’ Schreiber hielt, da er eine Schriftrolle bei sich trug. Diese beiden Männer bahnten sich nun ihren Weg zu den Särgen, wo der berühmte Feldherr stehenblieb. Ich hielt den Atem an und wartete auf den Beginn seiner Rede, doch der große Mann stand einfach nur da, während der untersetzte Fettwanst auf die kleine Holzbühne stieg und sich ähnlich wie ein Schaf am frühen Morgen räusperte. Schlagartig verstummten alles Wehklagen und Schwatzen, und nun begriff ich, daß der Mann, den ich für einen Schreiber gehalten halte, Perikles höchstpersönlich war.
    Als er erst einmal zu sprechen begonnen hatte, war er natürlich nicht mehr zu verwechseln, und während ich seiner vollen und geschmeidigen Stimme lauschte, schien der Feldherr vor meinen eigenen Augen um einen Kopf zu wachsen und etliches an Gewicht zu verlieren. Es ist schon sonderbar, wie stark die Wahrnehmung von einem Menschen durch dessen Stimme beeinflußt wird. Als ich mit dem Heer in Sizilien war, kannte ich einen riesigen Mann, der eine Mähne wie ein richtiger Löwe hatte, aber die albernste Piepsstimme besaß, die man sich vorstellen kann. Bevor ich ihn zum erstenmal sprechen hörte, hatte ich immer darauf geachtet, mich an der Front möglichst dicht neben ihm zu halten, weil ich mich in seiner Nähe sicherer fühlte. Doch kaum hatte er den Mund geöffnet, korrigierte ich umgehend meine Meinung und hielt mich in Zukunft von ihm fern. Schließlich ist allgemein bekannt, daß skurrile Gestalten häufig ein böses Ende finden.
    Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Perikles räusperte sich also und begann zu reden, und in den ersten Minuten waren alle wie gebannt. Aber schon nach kurzer Zeit beschlich mich bei dieser wunderbaren Rede ein seltsam unangenehmes Gefühl. Sicher, Perikles sprach umwerfend gut, das merkte sogar ich, aber im Grunde schien er gar nichts zu sagen. Die Worte sprudelten einfach aus ihm heraus wie aus einer der hübschen kleinen Quellen, die man nach dem Regen in den Bergen findet, und versickerten gleich wieder, ohne die geringste Spur von Feuchtigkeit zu hinterlassen. Vor allem erinnere ich mich noch an die folgende Stelle, die in der Neufassung des kleinen Feldherrn

Weitere Kostenlose Bücher