Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
Vom Netzwerk:
den Kopf wendet, um Pygmalion anzusehen, der mit offenem Mund dasteht und sich offensichtlich wie ein Vollidiot vorkommt. Ihr Kopf ist nur leicht geneigt, als habe sie ihn eben erst bemerkt, aber sie weiß, wer er ist. Sie will gerade etwas sagen, und man steht minutenlang gefesselt da, weil man glaubt, sie könnte jeden Moment die Lippen öffnen. In dieses Bild war ich verliebt, solange ich zurückdenken kann, und Phaidra sah genauso wie Galateia aus; und mein Kopf schmerzte so stark, daß ich kaum geradestehen konnte. Vielleicht war es die Art, wie sie zwischen den Hochzeitsgästen, die sich rings um sie scharten, so reglos dazustehen schien; möglicherweise war es auch der Fackelschein, der den Eindruck eines inoffiziellen Sonnenuntergangs hervorrief, in der sie die untergehende Sonne war. Zweifellos sah sie im Licht der Fackeln wirklich sehr jung aus, aber sie wirkte kein bißchen nervös, wobei sie mit ihrem ganzen Hochzeitsputz wie in ein Paket eingewickelt war. Ich dachte an die alte Geschichte, wie der Tyrann Peisistratos aus der Verbannung nach Athen zurückkehrte, indem er eine Frau als Athena verkleidete, ihr Goldstaub ins Haar streute und sie in einem goldenen Triumphwagen vor sich herfahren ließ, so daß alle Stadtwachen ihre Speere wegwarfen und aufs Gesicht fielen, weil sie glaubten, die Göttin bringe Peisistratos höchstpersönlich nach Hause.
    Die Flöten verstummten, und ich trat mit einem ähnlichen Gefühl vor, wie ich es immer gehabt hatte, wenn ich in der Schule etwas vortragen mußte und mich nach der dritten Zeile an nichts mehr erinnern konnte. Ich streckte den Arm aus und griff nach Phaidras Hand, von der ich, soweit ich mich erinnern kann, höchstens drei Finger zu fassen bekam. Ihr Vater sagte seinen Text auf, und ich lächelte blöde. An meinen Text konnte ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, und wenn ihn mir Kallikrates nicht ins Ohr geflüstert hätte, ständen wir vermutlich allesamt noch heute dort.
    Phaidra hob den Kopf und sah mir in die Augen. Ihr Gesicht schien hell wie die Sonne zu strahlen, und plötzlich fühlte ich mich sehr viel besser. Als ich sie zu mir ins Haus zog, stolperte sie.
    »Um Himmels willen, sie hat die Türschwelle berührt!« stieß jemand entsetzt aus, denn das ist natürlich das schlechteste Omen überhaupt.
    »Ach, halt die Klappe!« fauchte jemand anders. »Jetzt nies doch endlich mal einer!«
    »Dafür ist es jetzt wohl schon ein bißchen zu spät«, meinte die erste Stimme, woraufhin ein trompetenartiges Geräusch zu hören war, das ich als ein vorgetäuschtes Niesen auffaßte.
    »Na ja, ich fürchte, das läßt sich jetzt auch nicht mehr ändern«, seufzte Phaidras Vater.
     
    »Endlich sind wir allein«, säuselte Phaidra neckisch.
    Der Riemen meiner linken Sandale hatte sich von selbst in einen unentwirrbaren Knoten verwandelt, und die Bergarbeiter in meinem Kopf hatten eine neue Ader entdeckt. Ich murmelte etwas in der Art von ›wie schön‹ und setzte mich auf den Boden. Die Sache lief nicht gut. Mein Brustpanzer, der Speer und die Verpflegung für drei Tage standen fix und fertig für den Morgen gegen die Wand gelehnt, und ich wußte, daß zwei oder drei der Kinder des thrakischen Dienstmädchens an der Tür lauschten, denn ich hatte sie vor etwa einer Viertelstunde kichern hören. Phaidra war anscheinend taub geworden.
    »Wie geht es deinem armen Kopf?« gurrte sie. »Tut er dir noch sehr weh?«
    »Nein«, antwortete ich mürrisch. Der Riemen riß, und ich befreite mich von der Sandale.
    »Würde es dir etwas ausmachen, über das da etwas drüberzulegen?« Sie deutete auf den Haufen mit der Ausrüstung, auf dessen Spitze der Helm thronte. »Das sieht aus, als wenn uns jemand beobachtet.«
    Sie hatte nicht ganz unrecht. Also legte ich meinen Umhang darüber und setzte mich aufs Bett.
    »Soll ich das Licht ausmachen?« flüsterte sie. Ich nickte und zog mir den Chiton über den Kopf aus. Sie befeuchtete ihre Finger, und es war ein schwaches Zischen zu hören, als sie die Flamme ausdrückte. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich völlig elend. »Komm schon«, sagte sie.
    Ich kroch neben ihr ins Bett. Sie roch, ganz schwach, nach Schweiß.
    »Mein Vetter Archestratos ist einmal nach Samos gefahren«, berichtete sie.
    »Ach ja?«
    »Er ist von irgendwas gebissen worden. Zuletzt mußten sie ihm den Fuß absägen.«
    Ich holte tief Luft und bewegte den Arm in der ungefähren Absicht, ihn ihr um die Schulter zu legen. »Aua«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher