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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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etwas vorjammerte; doch irgendwann stolperten ein paar alte Männer über mich, die schon so früh unterwegs waren, um mit als erste in der Schlange für das Richteramt anzustehen, und erblickten das Blut an meinem Kopf. Sie fragten mich, was geschehen sei, und ich krächzte nur das eine Wort hervor: »Orestes.«
    »Ach, jetzt red keinen Unsinn, mein Sohn!« entgegnete einer der alten Männer. »Der ist vor fünf Jahren gehängt worden.«
    Das schien meinem Elend irgendwie die Krone aufzusetzen; von dem großen Orestes zum lebenslangen Krüppel gemacht worden zu sein, wäre etwas gewesen, mit dem ich in den langen Jahren vollkommener Bewegungslosigkeit, die vor mir lagen, hätte prahlen können.
    »Ich kann mich nicht bewegen«, keuchte ich. »Verstehst ihr mich? Ich kann mich nicht…«
    »Das überrascht mich nicht«, erwiderte der alte Mann. »Du liegst auf deinem Umhang und hast dir deshalb den Arm eingeklemmt.«
    »Der ist überhaupt nicht verletzt«, sagte ein anderer alter Mann. »Hast du schon mal seinen Atem gerochen?«
    Alle fingen an zu lachen und gingen weiter. Kaum waren sie um die Ecke verschwunden, machte ich einen zweiten Versuch, mich zu bewegen, und stand bald aufrecht und rieb mir den schmerzenden Kopf. Es war jetzt fast hell, und ich erkannte allmählich das Viertel, in das ich gegangen war. Phaidras Haus – mein Haus – lag gleich um die Ecke. Ich hob meinen Stock auf, der unter mir zerbrochen war, und schlich langsam bis zu meiner Haustür.
    Darunter fiel Licht hindurch, und drinnen waren singende Stimmen zu hören, aber ich hatte nicht die Kraft, wütend zu sein. Ich schlug nur mit dem gebogenen Griff meines Stocks gegen die Tür und lehnte mich schwer gegen den Rahmen.
    »Wenn das Mnesarchos ist, der zurückkommt«, hörte ich Phaidra rufen, »dann sag ihm, er soll weggehen, bis er wieder nüchtern ist! Der Wandteppich kostet zwanzig Drachmen.«
    Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ich warf mein ganzes Gewicht dagegen. »Du hast zwanzig Drachmen für einen Wandteppich bezahlt, du blöde Kuh?« schrie ich Phaidra an und fiel nach vorn in den Raum.
    Es gab so etwas wie einen schrillen Aufschrei, und Phaidra schlug sich hastig eine Tischdecke um. Die Männer waren nicht so flink.
    »Was denkst du dir eigentlich dabei, in solch einem Zustand nach Hause zu kommen?« fauchte Phaidra zurück, aber sie war nicht mit ganzen Herzen dabei. Dennoch mußte ich sie für den Versuch bewundern.
    Meine innere Stimme erinnerte mich daran, daß über der Tür mein Schwert hing, und ich riß es herunter und fuchtelte wild damit herum. »Auf die Beine!« brüllte ich die anderen an. »Und zwar allesamt!«
    Bei Phaidra waren drei Männer, alle nackt und offensichtlich betrunken. Zwei von ihnen hatte ich noch nie gesehen, aber den dritten kannte ich schon seit langer Zeit.
    »Ihr zwei verschwindet!« befahl ich den beiden fremden Männern. »Und zwar sofort, bevor ich meine Meinung ändere. Aber du«, und ich deutete mit der Schwertspitze auf Aristophanes, Sohn des Philippos, aus dem Demos Cholleidai, »bleibst genau da, wo du bist!«
    Die beiden Fremden rannten in die Nacht hinaus, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihre Umhänge mitzunehmen. Aristophanes versuchte, sich hinter Phaidra zu verstecken, doch sie trat zur Seite.
    »Den Göttern sei Dank, daß du gekommen bist, Eupolis!« schluchzte sie. »Er wollte mich gerade…«
    »Das habe ich gesehen«, erwiderte ich, und insgeheim jauchzte ich vor Freude. »Geh in den Innenraum und bleib dort. Wag es ja nicht herauszukommen, Phaidra«, fügte ich mit ernster Stimme hinzu. »Egal, was du hörst.«
    Natürlich hatte ich nicht wirklich die Absicht, Aristophanes umzubringen; zunächst einmal ist er viel größer und stärker als ich, und wenn ich versucht hätte, ihn anzugreifen, hätte ich das hier wahrscheinlich nicht mehr schreiben können. Aber ich amüsierte mich zu gut, um die Szene nicht voll auszukosten, und vielleicht spielte ich sie sogar ein bißchen zu gut. Jedenfalls, kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, nahm Phaidra eine Schale mit Pilzen in einer Knoblauchrahmsoße in die Hand und warf sie nach mir. Ich duckte mich, und Aristophanes stürmte an mir vorbei auf die Straße hinaus. Ich stand nur langsam vom Boden auf und befühlte die Schneide meiner Schwertklinge.
    »Damit bleibst nur noch du, Phaidra«, begann ich, doch bevor ich zu Ende sprechen konnte, bekam ich einen Lachkrampf und ließ das Schwert mit einem Klirren zu Boden

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