Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
früher gehen müssen oder später kommen. Doch auch über den engeren Familienkreis hinaus gibt es Faktoren, die zu einem positiven Grundgefühl beitragen. Befragte waren glücklicher, wenn sie den Eindruck hatten, in einer stabilen und gepflegten Umgebung zu leben. Hierzu zählen also die Attraktivität und Lebendigkeit von sozialen Gemeinschaften wie Vereinen, Bürgerinitiativen oder des bewohnten Stadtviertels. Kennt man sich oder empfinden die Bewohner durch zu viele unvermittelte Um- und Zuzüge eine Anonymität oder gar Feindseligkeit der Wohnumgebung? Weiter spielten lebensweltliche Details eine Rolle, ob die U-Bahn, die Busse, die Stadtbahn sauber und sicher sind, der Weg nach Hause beleuchtet und freundlich und die Nachbarschaft nicht abgerockt ist. Parks, Spielplätze und Sportanlagen empfinden auch jene als Bereicherung ihres Lebens und als glücksverheißend, die sie selbst gar nicht oder nicht sehr oft nutzen. Dasselbe gilt für das kulturelle Angebot, ja, ganz generell für den öffentlichen Raum. Layard empfiehlt also generell eine Politik, die für die seelischen Nöte größere Achtsamkeit entwickelt, die ganz konkret auf die Qualität der psychischen Pflege, der Therapien, auf deren Erstattungsmöglichkeit und natürlich auf Vor- und Nachsorge großen Wert legt.
Mir war früher schon aufgefallen, dass französische Jugendliche weniger Taschengeld bekamen und ganz allgemein weniger Bargeld mitführten als deutsche Altersgenossen, aber dennoch keinen deprivierten Eindruck machten. Das lag auch daran, dass etwa die Stadtbüchereien in Frankreich zügig zu Multimediatheken ausgebaut worden waren, in denen man umsonst auch Comics und Tonträger ausleihen konnte, später auch DVD s. Die Schulen übernahmen die Rollen von Jugendzentren, Kinos, Museen und Bibliotheken waren perfekt in Schuss und beliebte Treffpunkte, und so fehlte nichts, auch wenn man nicht für jede Freizeitunternehmung Geld ausgeben konnte.
Eine auf die Zufriedenheit oder die Zustimmung der Bürger zum eigenen Lebensumfeld und zur Lebenspraxis orientierte Politik ist eigentlich sozialdemokratische Politik: Realistisch, selbstbeschränkt und mit großer Wirkung. Wenn in einer Stadt der Stau am Morgen aufgelöst werden kann, weil Stadtbahn und Radwege die Straßen entlasten, wenn Lärm gedämmt und öffentliche Flächen und Einrichtungen gepflegt werden, wenn die Innenstädte nicht zur Abfolge von Spielhallen verkommen, wenn Freibäder offen bleiben, Stadtfeste sich nicht in Kommerz erschöpfen, Kriminalität nicht endemisch wird, die Wohnungen bezahlbar bleiben, die Schulen gut sind, nichts kosten und eine Ganztagsbetreuung anbieten, die Vereine lebendig und vielfältig agieren, die Wege zur Arbeit und zur Schule zumutbar bleiben und nicht alle permanent umziehen müssen, dann ist vielleicht nicht die Menschheit auf ewig sorgenfrei, aber das irdische Leben im Deutschland des Jahres 2014 wird besser.
Solch eine Umstellung der Politik, die auf die Erschöpfung der Gesellschaft und die unwiderruflich erreichte Grenze des realen Wachstums reagierte, wäre humanistisch und ambitioniert. Sie ist überfällig.
Stattdessen mutet dieses Wahlprogramm der erschöpften Gesellschaft vor allem weitere Erschöpfung zu: Auch das Hinterherjagen nach nie zu erreichenden Zielen – allen Alten die Sicherheit geben, gesund zu bleiben, alle Kinder von Gewalt befreien – ermüdet die Seele. Mit der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten würde den Wählern keine Geborgenheit versprochen, keine Last von den Schultern genommen, sie würden stattdessen gemeinschaftlich zu weiterer und permanenter, mindestens kommunikativer Anstrengung verpflichtet. Teilhabe lautet einer der im Programm am meisten verwendeten Begriffe, der andere, übrigens oft falsch verwendet, ist Nachhaltigkeit. Wer sich aber ohnehin schon überbeansprucht fühlt, wer das dringende Bedürfnis nach Unterstützung und Entlastung verspürt, den wird die Aussicht auf noch mehr Teilhabe am großen Ganzen – und zwar auf nachhaltige Teilhabe – eher aufstöhnen lassen. Die in jeder Stadt bekannten Querulanten mit ewig viel Zeit empfinden natürlich die Aussicht auf eine bürgerschaftliche Selbstverwaltung von Stromnetzen und sonst was, auf nachhaltige Teilhabe an allem und jedem wie eine Einladung zur permanenten Party. Aber Studenten, Rentner und Arbeitslose, die zwar Zeit hätten und sich über solch eine Einladung freuen könnten, leben subjektiv in einem permanenten Alarmzustand
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