Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
moralisch und allgemein zu bilden und weiterzuentwickeln. Es ging um eine Überwindung auch der symbolischen Geringschätzung durch Bürgertum und Adel, um eine fortschrittliche Anthropologie, die gerade die Dynamik propagierte und nicht den Stillstand, das Aufgehobensein in einer ewig unveränderten ständischen Ordnung.
Dieser Aufbruch betraf die Industrie, die Technik, auch die Kultur. Lange waren das Aufkommen der Massenunterhaltung und die Arbeiterbewegung verwandte Phänomene. Wenn man heute studiert, was die Arbeiter und Tagelöhner von damals gerne sahen, wird man eher im frühen Kino, in Western und Komödien ein wegweisendes Angebot erkennen als in den national gesinnten Dramen und Heldenschinken des Großbürgertums.
Doch dieser Spaß am kulturellen Fortschritt, an dem, was einmal modern sein wird, an der Avantgarde, ist einer aggressiven Biederkeit gewichen. Die Partei macht sich zwanghaft schlichter, als sie ist, kultiviert Wortkargheit und Verbundenheit mit der Verehrung der heimatlichen Scholle und vorreflexiver Instinkte statt Diskursfähigkeit und intellektueller Kompetenz. Eine Form von kauzigem Eigensinn wird zelebriert, weil Eleganz und Urbanität suspekt sind. Der Gedanke des Internationalismus ist fast ganz vergessen, allenfalls in Schrumpfform noch vorhanden. Globalisiert, das sind die anderen, das sind das Kapital und die Internetkonzerne. Ansonsten noch die Wissenschaft, aber auch an den Universitäten gibt es kein inspirierendes, mit den Sozialdemokraten verbundenes Nachdenken, wenn man von einigen archivalischen Resten absieht. So gibt sich die Partei selbst ein mattes, wenig attraktives Bild. Zwar ist man stolz auf die Fotos, die Willy Brandt und Helmut Schmidt mit den Filmstars, den Künstlern und Musikern ihrer Zeit zeigen, heute aber sollen die SPD -Größen nur mit ideologisch gefestigten, meist älteren und betont kernigen Typen zu sehen sein. Günter Grass ist der Normalfall sozialdemokratischen Lebensgefühls geworden, andere Lebensgefühle sind nicht aufgekommen.
Eine Ausnahme bildet allein Klaus Wowereit, der zu Recht mächtig stolz darauf ist, auch außerhalb der Partei bekannt zu sein und überall erkannt zu werden. Sein Handicap liegt wiederum darin, dass er diese kulturelle Neugier und Omnipräsenz nicht in entsprechende politische Initiativen oder Ideen übersetzt. Es muss schon eine wechselseitige Inspiration festzustellen sein.
Bei Glotz und dem Sprayer war das nie eine Sorge, der einstige Bundesgeschäftsführer entwickelte jede Menge Ideen, allerdings so viele, dass sich irgendwann ein inflationärer Effekt einstellte. Nimmt man seine Bücher wieder zur Hand, sind durchaus viele Weichenstellungen zu rekonstruieren. So warnte Glotz vor einer Erweiterung der Europäischen Union, bevor nicht die nötigen Institutionen zu einer gemeinsamen Finanz- und Außenpolitik geschaffen wären. Die Erweiterung ohne Vertiefung sei eine Verflachung, die einzig im Sinne der Neoliberalen liege. Hier sehen wir, in der Rückschau, tatsächlich eine wesentliche Fehlentwicklung, Vertiefung vor Erweiterung wäre besser gewesen. Und er versuchte vergebens, die Partei für moderne Technologien und jene, die sie entwickeln, zu öffnen. Sein Wunsch war stets, dass die Sozialdemokraten auch im Vorstand der Gesellschaft vertreten wären, nicht nur im Betriebsrat.
Heute sind sowohl der Mann wie auch seine Ansichten vergessen. Dabei hat er den schleichenden Infarkt der Partei genau beschrieben und das Ende korrekt prognostiziert. Er warnte schon vor Jahren vor der »Lähmschicht« der mittleren Parteielite. Er schlug vor, »als Korrektiv zur mittleren Parteielite der Ehrenamtlichen einen hochqualifizierten hauptamtlichen Apparat« zu schaffen, also eine Truppe von politischen Sekretären. Er belebte die Tradition der Parteischule, 2001 musste sie geschlossen werden. Er organisierte den Wechsel von Günter Verheugen und Otto Schily aus der FDP bzw. von den Grünen zur SPD .
»Verheugen und Schily gehören heute zur allerersten Reihe der sozialdemokratischen Politiker. Haben wollte die SPD sie nicht. Sie rochen falsch.« Und in seinen knapp vor seinem Tod fertig gestellten Memoiren »Von Heimat zu Heimat« äußert Glotz sogar offene Zweifel an der Fähigkeit der Partei, noch einmal eine wichtige Rolle zu spielen: »Hat die SPD die Chance einer Renaissance? Das ist zwar nicht sicher, wie man an der Zerstörung der Sozialistischen Partei Italiens SPI durch Bettino Craxi sehen kann, aber es ist
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