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Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)

Titel: Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Minkmar
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möglich, sich zu fangen. Es wird allerdings Geduld, Stehvermögen und neue Führungsfiguren erfordern.«
    Glotz pflegte einen eleganten bis luxuriösen Lebensstil und verteidigte ihn auch. Er fand, dass die selbst auferlegte Austerität der oberen SPD -Genossen die ganze Sache ihrer Attraktivität beraube. Wenn etwa der damalige Vorsitzende Hans-Jochen Vogel sich entschuldigte, Business Class zu fliegen, sah Glotz darin schon den Beginn einer schleichenden Selbstentmächtigung der Politik. Er war genervt, wenn man ihm einige luxuriöse Pausen von seinem aufreibenden Alltag missgönnte, seinen Geschmack an guten Hotels missbilligte oder ihn deswegen kritisierte, dass seine Bundestagsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter beim Verfassen seiner Bücher und Artikel halfen. Der Mann, der zu meiner Zeit mehr dafür tat als jeder andere, dass die Sozialdemokraten eine moderne Partei waren und nicht bloß das Museum ihrer selbst, nicht bloß politisches Weltkulturerbe, wollte auch ein Leben führen, das nicht spießig war und nicht unter seinem Niveau. So wie im Übrigen viele andere Deutsche. Er moderierte ein in meinem Studium sehr wichtiges Gespräch mit Pierre Bourdieu, konnte mit Intellektuellen aus allen europäischen Ländern diskutieren und machte dabei oft die beste Figur. Als einer der wenigen hielt er noch die Fahne des Internationalismus hoch und lebte wirklich politische Kultur in dem Sinne, dass er das Gespräch auch mit schwierigen Intellektuellen und Wissenschaftlern suchte.
    Diverse Male pilgerte ich zu Veranstaltungen mit ihm, es war stets ein Genuss. Nicht selten konnte man brisante und weiterführende Lektüreempfehlungen notieren, bekam eine furiose Beschreibung der Gesamtlage, es war ein Fest. Glotz erhöhte permanent die Komplexität. In Zeiten, in denen die Linken und Grünen in immer dolleren Moralorgien schwelgten, in denen der Kitsch den politischen Diskurs verklebte und der Manichäismus dominierte, verwirrte seine stets unvorhersehbare Argumentation und hielt einen auf Trab. Richtig gemütlich wurde es mit ihm nie, heute wäre er ganz aufgeschmissen: Kein Stallgeruch, kein religiöses Bekenntnis zur Rente der alleinerziehenden Krankenschwester und dann die Nähe zur Wirtschaft, nicht auszudenken. Politisch stand er den Besten seiner Zeit nahe, Willy Brandt und Oskar Lafontaine. Brandt war für ihn kein Denkmal, sondern sein Chef. Reaktiviert hat ihn dann einmal Rudolf Scharping bei seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur, Glotz kam in das Schattenkabinett, sein letzter großer Einsatz für die Partei.
    Nach seinem Tod wandte sich ein ehemaliger Kollege Glotzens aus Erfurt, der Politikwissenschaftler Dietmar Herz, mit der Idee an die Partei, regelmäßige Glotz-Kolloquien abzuhalten und einen entsprechenden kleinen Verein zu gründen, aber bislang ohne Erfolg. Herz hatte Glotz als Gründungsrektor der Universität Erfurt erlebt, wo ihm ganz ähnliche Probleme entgegengeschlagen waren wie in der SPD : Wozu brauchte die Uni ein Büro in den USA ? Wozu große Abteilungen zum Einwerben von Fundraising und vieles mehr? Auch der öffentliche Dienst hatte sich dem neoliberalen Zeigeist angepasst: Mausgrau sollten Universitäten und Politiker daherkommen. Das bunte Kleid eines geschäftigen, schönen bis luxuriösen Lebens sollte Medien, Sport und Unternehmen vorbehalten bleiben.
    Heute ist nicht bloß die Erinnerung an Mann und Werk verweht, der ganze Stil, der Versuch, solche Personen und Fragen anzusprechen, liegt brach.
    Ich sah Peter Glotz zum letzten Mal am Flughafen in Zürich und wollte irgendetwas Nettes sagen, deutlich machen, welche Rolle er meiner Ansicht nach spielte, aber er erinnerte sich an einen Halbsatz in einem Artikel von mir, in dem ich die Relevanz der von ihm verantworteten Zeitschrift »Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte« anzweifelte, eine kleine Spitze in einem längeren Artikel, die ich mir ebenso gut hätte sparen können. Doch Glotz sah sich genötigt, sich zu rechtfertigen und die Wirkung dieser Publikation in die Partei hinein zu beschreiben. Ich hätte die knappe Zeit, bis zum Einfahren des Zuges, der uns vom Flughafen in die Stadtmitte bringen sollte, lieber mit anderen Themen verbracht, aber ich war beruhigt, als ich erfuhr, dass er an seiner Autobiographie schreibe, sie sei fast fertig. Wir verabredeten spontan, dass ich ihn kurz vor Erscheinen des Buches besuchen und etwas schreiben würde. Einige Wochen später kamen die Fahnen, ich las sie an einem Abend und in die Nacht

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